Call for Papers | Workshop 17: Verbraucherpolitik in der Polykrise

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Der Workshop des KVF NRW in Kooperation mit dem Institut für Verbraucherwissenschaften (IfV) soll den Verbraucheralltag und die Verbraucherpolitik in Zeiten der Polykrise analysieren. Interessierte Wissenschaftler:innen sind eingeladen, Themenvorschläge bis zum 1. September 2023 einzureichen.
Verkehrsschilder (Fußgänger und Radfahrer) in einer Flut

Logo des Instituts für VerbraucherwissenschaftenEin gemeinsamer Workshop des Kompetenzzentrums Verbraucherforschung der Verbraucherzentrale NRW e. V. (KVF NRW) mit dem Institut für Verbraucherwissenschaften (IfV).


Sich überlagernde und verstärkende Krisen wie die Covid-19-Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Inflation, soziale Ungleichheit und der Klimawandel haben erheblichen Einfluss auf den Alltag und das Handeln der Verbraucher:innen. Die Sorge um die Befriedigung der Lebensbedürfnisse rückt immer mehr in den Vordergrund. Der Workshop des Kompetenzzentrums Verbraucherforschung NRW (KVF NRW) in Kooperation mit dem Institut für Verbraucherwissenschaften (IfV) soll den Verbraucheralltag und die Verbraucherpolitik in Zeiten der Polykrise beschreiben, analysieren und bewerten. Interessierte Wissenschaftler:innen sind eingeladen, Themenvorschläge bis zum 1. September 2023 einzureichen. Der Workshop findet am 6. November 2023 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf statt.

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Im Dezember 2021 nahm sich eine neue Koalitionsregierung in Deutschland vor, mehr Fortschritt zu wagen. Schon wenige Monate später konnte von diesem verheißungsvollen Anspruch keine Rede mehr sein, seitdem wird im Krisenmodus re(a)giert. Unerwartete Krisen, Dauerkrisen und die Folgen von überwunden geglaubter Krisen wechseln sich ab, treten gleichzeitig auf und verstärken sich gegenseitig. Diese Polykrise in Form eines Geflechts von ökologischen, politischen, ökonomischen und sozialen Krisen verunsichert und die Menschen als Verbraucher:innen spüren die Auswirkungen in vielfältiger Weise: durch steigende Energie-, Lebensmittel- und Mietpreise, Hinweise zur Bevorratung in Krisensituationen, Lieferengpässe bei Medikamenten, Auswirkungen des Klimawandels und der notwendigen Energiewende sowie moralische Anforderungen an das Konsumverhalten.

1. Krisen

Am Krisencharakter wird nicht mehr gezweifelt, unklar ist allenfalls die Diagnose: Der gravitätische Begriff der „Zeitenwende“, den Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 benutzte, teilt die Welt in eine Zeit vor dem russischen Angriff und eine Zeit danach. Diese „hastige Invokation“, so der Historiker Adam Tooze (2022a, 23), blende die Vorgeschichte weitgehend aus, die mit dem Begriff der „Polykrise“, wie ihn der ehemalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker 2015 benutzte, in den Blick genommen werde. Unter einer Polykrise versteht Tooze „eine Situation, in der das Ganze gefährlicher ist als die Summe seiner Teile. Mit anderen Worten: Die einzelnen Krisen existieren nicht einfach nebeneinander, sondern beeinflussen sich gegenseitig. Sie sind über vielfältige Wirkungskanäle miteinander verbunden“ (Tooze 2022b). Krisen haben Ursachen und Wirkungen, sie haben eine Geschichte und sie offenbaren Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse. Darauf zielt auch der Begriff der „multiplen Krise“ ab, der im Zuge der globalen Finanzkrise 2008 Eingang in die Diskussion gefunden hat (Brand 2009; Demirović et al. 2011). Seit 2022 als mediales Schlagwort verwendet, um die vielfältige Krisenhaftigkeit der Gegenwart begrifflich zu fassen, wird er teilweise unreflektiert und ohne inhaltliche Präzisierung verwendet. Vielmehr wird der Begriff als Ausdruck von Überforderung wahrgenommen (Apin 2022).

Und tatsächlich sind Verbraucher:innen angesichts der Polykrise überfordert und verunsichert. Insbesondere die steigenden Preise für Güter zur Befriedigung der Grundbedürfnisse und die steigenden Mietkosten setzen Haushalte mit niedrigem, aber auch mit mittlerem Einkommen unter erheblichen Druck, was sich auch in der steigenden Beratungsnachfrage bei den Verbraucherzentralen niederschlägt. Die Inflation ist eine Krise, die durch den Krieg in der Ukraine und die Spannungen davor mitverursacht wurde. Der Aufruf zum Energiesparen erreichte zwar alle Verbraucher:innen, aufgrund der sozialen Unsicherheit trafen die Preissteigerungen und die Einsparungen aber vor allem diejenigen, deren Budget ohnehin nur bei sparsamer Haushaltsführung bis zum Monatsende reichte. Die deutsche Abhängigkeit von russischem Gas wurde im Zuge der Wirtschaftssanktionen und der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines deutlich und zeigte, dass die Energiewende zur Abmilderung der Folgen der Klimakrise und aus Gründen der Versorgungssicherheit notwendig ist. Gleichzeitig zeigen sich gerade in diesem Bereich gesellschaftliche Verwerfungen: Klimaproteste werden aus der Politik scharf kritisiert und von Teilen der Bevölkerung mit aggressivem und gewalttätigem Verhalten beantwortet. Maßnahmen zur Energiewende, wie beispielsweise der Heizungstausch, werden bereits im Vorfeld kontrovers diskutiert und skandalisiert.

Gerade die Klimakrise und ihre Folgen stellen den Weg der Konsumgesellschaft radikal in Frage und zeigen Konfliktpotenziale zwischen Klassen, sozialen Gruppen und Lebensstilen auf. Der Klimawandel wird dabei auch als Generationenkonflikt gerahmt: Aktivist:innen konfrontieren die Politik und Bevölkerung mit den Sorgen der „Generation Z“ und den nachfolgend Geborenen, während „Boomer“ und „Generation X“ als Verweigerer und Blockierer erscheinen (Siniawski 2023). Rufe prominenter Vertreter:innen älterer Kohorten nach Fortschrittsoptimismus wirken auf jene, die „Follow the Science!“ fordern, ignorant und verstörend, insbesondere wenn die Auswirkungen des Klimawandels in Zweifel gezogen werden (Bittner 2023; Pozarek 2022).

Kritisiert wird eine „nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit“ (Blühdorn et al. 2020), die auf einer Anspruchshaltung beruhe: Konsum sei zu einem legitimen Mittel der Selbstverwirklichung geworden, dessen Einschränkung mit Blick auf die Folgen dieser Lebensweise nicht nur als Einschränkung, sondern auch als Zumutung und Angriff auf die persönliche Freiheit gewertet werde. Um diesen Status quo aufrechtzuerhalten, sei die Demokratie in einen „post-ökologischen Verteidigungskonsens“ eingebunden (Blühdorn et al. 2020, 328).

2. Reaktionen: Anpassung als Leitmotiv

Es mehren sich die Stimmen, die davor warnen, dass die Klimaziele angesichts des Tempos des Wandels und der Krisen, in denen sich die Welt befindet, nicht oder nur sehr schwer erreichbar sind und dass deshalb davon auszugehen ist, dass nur noch die Anpassung realistisch sei. Anpassung (Adaptation) ist neben der Minderung (Mitigation) eine der vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) aufgezeigten Reaktionen auf die globale Erwärmung und ihre Folgen. Während Minderungsstrategien auf die Reduktion von Treibhausgasen abzielen, um den Klimawandel möglichst im Sinne des 1,5-Grad-Ziels der Pariser Klimakonferenz von 2015 zu stoppen, beschreibt der Begriff der Anpassung den Umgang mit den bestehenden und zu erwartenden Folgen der Klimakrise.

Neben technischen und planerischen Anpassungsszenarien werden aber auch Ansätze diskutiert, die ein tiefgreifendes Verständnis von Anpassung auf der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Ebene einfordern (Bendell und Read 2021; Wainwright und Mann 2020). Angesichts von Krisen, die sich gegenseitig beeinflussen und verstärken, wird das Narrativ des gesellschaftlichen Fortschritts brüchig. Fortschritt und individuelle Selbstentfaltung, für die Konsum ein integraler Bestandteil ist, werden angesichts der Polykrise aus Pandemie, Krieg, Wirtschaftskrise, sozialer Ungleichheit und Umweltzerstörung zunehmend in Zweifel gezogen (Staab 2022a, 71; 2022b). Der Glaube an politische Steuerung und Kontrollierbarkeit scheint überschätzt.

Der Soziologe Philipp Staab identifizierte 2022 Anpassung als das „Leitmotiv der nächsten Gesellschaft“ (Staab 2022a). An die Stelle von Selbtentfaltung durch Konsum und Wohlstand treten laut Staab Praktiken der Selbsterhaltung. Dies zeige sich unter anderem im Aufstieg des Resilienzbegriffs (Bröckling 2017; Rifkin 2022), dem bereits die Erkenntnis innewohne, dass bestimmte Entwicklungen irreversibel seien. Selbsterhaltung sei aber nicht individuell denkbar: „Die Frage der individuellen Selbstverwirklichung ist angesichts der Bedrohungen durch den Klimawandel zweitrangig. Selbsterhaltung kann nur als kollektives Projekt gelingen. Die konsumzentrierte Entfaltung der Einzelnen wird dahinter zurücktreten“ (Staab in Reinecke 2023).

3. Themen und Fragestellungen

Die Frage, wie sich die Konsumgesellschaft und die Verbraucherpolitik im Zeichen der Polykrise verändern, steht im Mittelpunkt des 17. Workshops Verbraucherforschung am Montag, den 6. November 2023. Bis Freitag, den 1. September 2023 können interessierte Wissenschaftler:innen ihre Themenvorschläge einreichen. Willkommen sind Beiträge aus allen für die Verbraucherwissenschaften relevanten Fachrichtungen (bspw. Erziehungswissenschaft, Ökonomie, Politikwissenschaft, Psychologie, Rechtswissenschaft, Sozialwissenschaft, Geschichtswissenschaft, Informatik, Marketing et cetera), aber auch inter- und transdisziplinäre Vorschläge zu folgenden möglichen Themenschwerpunkten:

  • Wie können verbraucherpolitische Akteure auf die Polykrise reagieren? Welche Steuerungs- und Eingriffsmöglichkeiten stehen ihnen zur Verfügung? Sind die klassischen Ansatzpunkte der Verbraucherpolitik überhaupt geeignet, der (Poly-)Krise zu begegnen?
  • Können Ungleichheiten durch verbraucher- und konsumpolitische Maßnahmen ausgeglichen werden? Wie können Einschränkungen gerecht gestaltet werden, damit Reiche sich ihnen nicht entziehen können und mittlere und untere Einkommen nicht zusätzlich belastet werden?
  • Welche Maßnahmen sind geeignet, um das Preisniveau von Güter und Dienstleistungen zur Befriedigung von Grundbedürfnissen stabil zu halten? Wie können Preisschocks abgefedert und die Gewinninflation bekämpft werden?
  • Wie kann der Konsum klima- und umweltverträglich gestaltet werden? Welche Maßnahmen (CO2-Bepreisung, CO2-Budgets, Verzichtsappelle, Verbotspolitik et cetera) sind notwendig und geeignet, um die Folgen der Klimakrise zu minimieren?
  • Wie kann ein (adaptiver) Umbau der Konsumgesellschaft angesichts politischer und gesellschaftlicher Widerstände gelingen? Welche Konfliktlinien sind zu erwarten und wie können regressive und autoritäre Entwicklungen vermieden werden?
  • Wie und in welcher Rolle können Technik und Wissenschaft zum Umbau der Konsumgesellschaft beitragen?

4. Einreichung, Fristen und Terminplanung

Bitte senden Sie ein aussagefähiges Abstract (maximal 2.000 Zeichen inkl. Leerzeichen; Titel, Autorennamen, Kontaktdaten und Keywords zählen nicht dazu) bis Montag, den 1. September 2023 als eine PDF-Datei über das Kontaktformular auf dieser Seite.

Der Workshop findet am 6. November 2023 an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf statt.

Bis zum 7. September 2023 erhalten Sie Nachricht über die Annahme Ihres Vorschlags. In diesem Fall werden wir Sie bitten, uns bis zum 3. November 2023 eine Präsentation (PPTX-, ODP-oder PDF-Datei) zuzusenden. Bitte beachten Sie, dass die Vorträge dieses Workshops im Open Access in unserem „Jahrbuch Konsum & Verbraucherwissenschaften“ erscheinen sollen. Die Abgabe der Manuskripte (als DOCX- oder ODT-Datei) soll bis zum 1. März 2024 erfolgen.

5. Kontaktformular zur Einreichung Ihres Vorschlags

Der Call ist geschlossen.

6. Hinweise zum Datenschutz

Die Verbraucherzentrale NRW e. V. legt großen Wert auf den Schutz personenbezogener Daten. Unsere Datenschutzhinweise (https://www.verbraucherforschung.nrw/datenschutz) informieren Sie darüber, wie wir Ihre Daten verwenden und welche Rechte Sie nach der EU-Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) haben. Bitte beachten Sie besonders die Hinweise „Themenvorschläge zu den Veranstaltungen des Kompetenzzentrums Verbraucherforschung (KVF NRW)“ und „Kontaktformulare und E-Mail-Kontakt“.

7. Literatur

Apin, Nina. 2022. Multiple Krisen: Der Sorgenpool ist voll! taz (20. November). https://taz.de/!5893456/ (zugegriffen: 8. Mai 2023).

Bendell, Jem und Rupert J. Read, Hrsg. 2021. Deep adaptation: Navigating the realities of climate chaos. Cambridge: Polity Press.

Bittner, Jochen. 2023. Klimakrise: Der Weltuntergang fällt aus. Die Zeit, Nr. 8 (15. Februar). https://www.zeit.de/2023/08/kapitalismus-klimakrise-co2-reduktion-klimaschutz (zugegriffen: 21. Februar 2023).

Blühdorn, Ingolfur, Felix Butzlaff, Michael Deflorian, Daniel Hausknost und Mirijam Mock. 2020. Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit: Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet. 2., aktualisierte Auflage. Bielefeld: transcript. https://doi.org/10.14361/9783839454428.

Brand, Ulrich. 2009. Die Multiple Krise: Dynamik und Zusammenhang der Krisendimensionen, Anforderungen an politische Institutionen und Chancen progressiver Politik. Berlin: Heinrich-Böll-Stiftung. https://www.boell.de/sites/default/files/multiple_krisen_u_brand_1.pdf.

Bröckling, Ulrich. 2017. Gute Hirten führen sanft: Über Menschenregierungskünste. Berlin: Suhrkamp.

Demirović, Alex, Julia Dück, Florian Becker, Pauline Bader und Attac Deutschland, Hrsg. 2011. VielfachKrise im finanzmarktdominierten Kapitalismus. Hamburg: VSA-Verlag. https://www.vsa-verlag.de/uploads/media/VSA_Demirovic_ua_VielfachKrise.pdf.

Pozarek, Astrid. 2022. Markus Lanz zu Klimawandel: Einfach „vorstellen, dass das Leben weitergeht“. PULS 24 (10. November). https://www.puls24.at/news/entertainment/markus-lanz-zu-klimawandel-einfach-vorstellen-dass-das-leben-weitergeht/280719 (zugegriffen: 7. Februar 2023).

Reinecke, Stefan. 2023. Soziologe Philipp Staab über Klimakrise: „Leben in einer Ära der Anpassung“. taz (14. Januar). https://taz.de/!5905406/ (zugegriffen: 8. Februar 2023).

Rifkin, Jeremy. 2022. Das Zeitalter der Resilienz: Leben neu denken auf einer wilden Erde. Frankfurt am Main: Campus Verlag.

Siniawski, Adalbert. 2023. Ihr habt es doch gewusst! Die Boomer-Generation als Klimakiller? Deutschlandfunk: Agenda (1. Februar). https://www.deutschlandfunk.de/ihr-habt-es-doch-gewusst-die-boomer-generation-als-klimakiller-dlf-15a5cd6f-100.html (zugegriffen: 21. Februar 2023).

Staab, Philipp. 2022a. Anpassung: Leitmotiv der nächsten Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp.

Staab, Philipp. 2022b. Krisenpolitik: Wie Gesellschaften stabil bleiben. Die Zeit (12. Oktober). https://www.zeit.de/kultur/2022-10/krisenpolitik-anpassung-gesellschaft-selbsterhaltung (zugegriffen: 16. Februar 2023).

Tooze, Adam. 2022a. Zeitenwende oder Polykrise? Das Modell Deutschland auf dem Prüfstand: Willy Brandt Lecture 2022. Schriftenreihe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung Heft 36. Berlin: Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. https://willy-brandt.de/wp-content/uploads/bwbs-h36-online.pdf.

Tooze, Adam. 2022b. Krisenzeiten: Kawumm! Die Zeit (15. Juli). https://www.zeit.de/2022/29/krisenzeiten-krieg-ukraine-oel-polykrise (zugegriffen: 24. November 2022).

Wainwright, Joel und Geoff Mann. 2020. Climate Leviathan: A political theory of our planetary future. London: Verso.