1. Professionalisierung im Wandel
Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert organisierten sich Verbraucher:innen noch weitgehend selbst bzw. im Verbund mit der Arbeiterbewegung gegen den sich herausbildenden liberalen Kapitalismus, etwa durch Proteste und Streiks gegen hohe Preise und Warenknappheit sowie durch genossenschaftlich organisierte Verbrauchsgemeinschaften als ökonomische Gegenmacht. Im wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegszeit kann dann die Etablierung von Testmagazinen und Beratungseinrichtungen sowie die Herausbildung von spezifischen Rechten und Organisationen für Verbraucher:innen als eine erste „Professionalisierung“ der Arbeit und des Engagements für Verbraucherinnen und Verbraucher gesehen werden (für Deutschland Rick 2018). Mit dem späteren grünen US-Präsidentschaftskandidaten, dem Verbraucheranwalt Ralph Nader, hat diese Entwicklung hin zu einer starken stellvertretenden Stimme für die Verbraucher:innen besondere Strahl- und Symbolkraft erlangt. Aber auch durch Kampagnen- und Bildungsarbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen erhielt die Professionalisierung des Verbraucherschutzes einen Schub.
Trotz voranschreitender Institutionalisierung erweist sich die Interessenvertretung im Bereich der Verbraucherpolitik aufgrund der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung, der Heterogenität der Verbraucherinteressen und der Tatsache, dass es sich um ein Querschnittspolitikfeld handelt als Herausforderung (Lamla und Laser 2018, vgl. auch Bala und Loer 2021; Bala und Schuldzinski 2021). Das zeigt nicht nur der Wechsel politischer Zuständigkeiten auf Bundesebene vom Landwirtschafts- und Ernährungs- zum Justiz- und jüngst nun zum Umweltressort. Insbesondere die hohe Dynamik des digitalen Wandels macht deutlich, wie schwierig eine Stabilisie-rung politischer Zuständigkeiten und beruflicher Kompetenzanfor-derungen im Feld des Verbraucherschutzes ist.
Das Feld unterliegt einem permanenten Wandel. Hatten sich in der Vergangenheit im Bereich der Rechts- oder der Ernährungswissenschaften Ausbildungsgänge oder Spezialisierungsmöglichkeiten für dieses komplexe Berufsfeld entwickelt, so stehen die Akteure angesichts der beschleunigten Marktveränderungen doch immer wieder vor neuen Herausforderungen, die etwa heute auch Kompetenzanforderungen im Bereich des Hackens oder der Algorithmenkontrolle umfassen. Vor diesem Hintergrund gilt es über Verbraucherschutz als Beruf und Berufung genauer nachzudenken und insbesondere die Grenzen und Möglichkeiten der Professionalisierung in diesem Feld zu reflektieren.
2. Fragestellungen
Der Workshop will hierzu Fragen aufgreifen und auf den Verbraucherschutz beziehen, wie sie in der Professionssoziologie an unterschiedlichen Berufsfeldern untersucht werden:
- Inwiefern handelt es sich etwa um ein professionalisierungsbedürftiges Feld (Oevermann 2002), dessen gesellschaftliche Tragweite, Leidensdruck auf die einzelnen Verbraucher:innen und inhärente Krisendynamik es erforderlich macht, dass ein Berufsstand sich dieser Probleme stellvertretend annimmt und hierbei mit einem ausgereiften ethischen Selbstverständnis agiert, die eigenen Qualitätsstandards des Handelns wissenschaftlich absichert und in relativ autonomen Zusammenhängen durchsetzt, pflegt und evaluiert?
- Ist wiederum eine solche Professionalisierungsbedürftigkeit (Oevermann 2002) zu decken? Ist das Handlungsfeld, in welchem die Sprecher:innen und Stellvertreter:innen der Verbraucher:innen agieren, nicht zu heterogen, um ein kollektives Selbstverständnis im Sinne einer Profession auszubilden? Ist also der Verbraucherschutz überhaupt professionalisierbar, und welche Kompetenzen wären in einer solchen Profession typischerweise zu versammeln und durch Ausbildungsangebote nachhaltig sicherzustellen?
- Hier stellt sich auch die Frage, welche Ansprüche an die Herausbildung einer Profession im Feld des Verbraucherschutzes sinnvoll formuliert werden können und müssten. Ist die Heterogenität der Tätigkeiten von der Rechtspflege über die Alltagsunterstützung etwa im Bereich der Schuldnerberatung bis hin zu digitalen Marktwächtern möglicherweise auch ein Indiz für den Wandel von Professionen in der heutigen Wissensgesellschaft hin zu größerer innerer Vielfalt (Schütze 2016)? Oder sollte der Begriff für solche Felder reserviert bleiben, in denen einzelne Berufsstände – wie die Schulmedizin oder das Rechtswesen – Kernaufgaben kontrollieren und diese Kontrolle monopolisieren (Stichweh 1996)? Kann der Schutz der Verbraucher:innen als Aspekt solcher Kernprofessionen betrachtet werden und von deren Professionsstandards gleichsam zehren?
- Wie steht es um die Beziehung der Professionellen zu ihrer Klientel, und worin besteht letztere genau? Sind es die alltäglichen Lebensvollzüge einzelner oder eher die Problemsituationen des Kollektivs von Verbraucher:innen, auf die sich das Engagement stellvertretender Krisenbearbeitung im Bereich von Verbraucherschutz und Verbraucherpolitik genau richtet? Und wie wären kollektive, auf Ordnungen des Konsums abzielende Aktivitäten mit solchen der Stärkung von Resilienzen und (nicht zuletzt kritischen) Kompetenzen der Verbraucher:innen selbst zu verknüpfen (Lamla 2013, 2020, 2021)?
- Schließlich stellt sich die Frage nach der Rolle der Verbraucherwissenschaften (Kenning et al. 2021) als emergierendes Feld? Entwickeln die interdisziplinären Verbünde, die sich um einen Kanon an Theorien, Methoden und Wissensbeständen evidenzbasierter Verbraucherforschung bemühen, genügend Konsistenz und Kohäsionskraft, um in einem relevanten Ausmaß gesellschaftliche Deutungsmacht zu gewinnen und darüber hinaus auch neue Formen und Wege der Vermittlung und Verankerung professioneller Kompetenzen zu finden (etwa durch neue interdisziplinäre Studiengänge)? Oder reproduzieren sich hier dauerhaft disziplinäre Sprachbarrieren und heterogene Standpunkte?
Der Workshop wird diese Fragen gewiss nicht abschließend beantworten können, will sie aber im Dialog von Wissenschaftler:innen aus dem interdisziplinären Netzwerk der Verbraucherforschung, von Expert:innen der Professionsforschung und von Praktiker:innen der Verbraucherarbeit und der Verbraucherpolitik zumindest so weit ausleuchten, dass Ansätze für die weitere Bearbeitung erkennbar und abgrenzbar werden. Exemplarisch sollen hierfür zwei Praxisfelder näher in den Blick genommen werden, nämlich einerseits die etablierte und gut ausgebaute Arbeit der Verbraucherzentrale NRW e. V. und andererseits die noch in der Ausgestaltung befindliche Entwicklung des digitalen Verbraucherschutzes in einer Behörde wie dem BSI.
Die Beiträge sollen in einem Sammelband in der Reihe „Beiträge zur Verbraucherforschung“ des Kompetenzzentrums Verbraucherforschung der Verbraucherzentrale NRW veröffentlicht werden.