Soziale Ungleichheit und Verbraucherpolitik
Ungleichheit, insbesondere Einkommens- und Vermögensungleichheit, wird seit der Studie „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ von Thomas Piketty (2014) verstärkt als gesellschaftliches Problem wahrgenommen und kontrovers diskutiert. Die Frage, welche Auswirkungen die ungleiche Verteilung materieller Ressourcen auf Konsummuster und die Verbraucherpolitik haben, stand im Zentrum des 14. NRW-Workshops Verbraucherforschung, den das Kompetenzzentrum Verbraucherforschung NRW (KVF NRW) am Montag, den 1. Juli 2019 im Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut veranstaltete.
Am 1. Juli 2019 fand im Heinrich-Heine-Institut der 14. NRW-Workshop Verbraucherforschung statt. Die Kurzzusammenfassungen und die von den Referentinnen und Referenten freigegebenen Präsentationen zu diesem Workshop finden Sie in der rechten Navigationsleiste (Downloads). Für den Inhalt der Kurzzusammenfassungen und die Gestaltung der Präsentationen sind die Referentinnen und Referenten verantwortlich. Die Vorträge dieses Workshops werden im 12. Band der "Beiträge zur Verbraucherforschung" im Frühjahr 2020 veröffentlicht.
Keynote: Konsum, ökonomische Ungleichheit und sozialer Status
Prof. Dr. Christian Neuhäuser und Meike Drees, M. Ed. | TU Dortmund
Zwischen Würde und sozialem Status besteht ein enger Zusammenhang, der sich über Armut und Reichtum vermittelt. So lautet unsere Grundthese, die wir in drei Schritten darlegen.
In einem ersten Schritt klären wir die Begriffe der Würde, der Armut, des Reichtums und des sozialen Status. Die Würde des Menschen besteht nicht nur darin, dieselben Grundrechte zu haben. Sie besteht vielmehr darin, als gleichrangiges oder eben gleichwürdiges Gesellschaftsmitglied anerkannt zu werden. Der Begriff der Armut wird ausdifferenziert in absolute und relative Armut. Absolut arm ist, wer zu wenig Geld bzw. materielle Ressourcen hat, um seine Existenz als Person zu sichern. 2017 lag die Grenze zur absoluten Armut bei einer Kaufkraft von 1,90 US-Dollar am Tag. Relativ arm ist hingegen, wer weniger als 50 oder 60 Prozent des Durchschnittseinkommens besitzt. Auch Reichtum lässt sich relativ und absolut bestimmen. Relativ reich ist demnach, wer 200 oder 300 Prozent des Durchschnittseinkommens besitzt. Absolut reich ist, wer unvorstellbar mehr Geld besitzt, als man für ein würdevolles Leben braucht. Multimillionäre und Milliardäre sind in diesem Sinne absolut reich. Der soziale Status besteht in bestimmten Ämtern und Positionen einschließlich der sozioökonomischen Positionierung innerhalb einer hierarchisch wahrgenommenen Statusordnung. Eine Professorin hat vielleicht einen höheren beruflichen Status als ein Autohändler. Der Autohändler hat aber vielleicht einen höheren ökonomischen Status. Ein Pfleger oder eine Bäckerin haben auf jeden Fall einen niedrigeren Status als die beiden anderen.
In einem zweiten Schritt zeigen wir, wie stark Konsumverhalten von den ökonomischen Verhältnissen abhängig und wie wichtig Konsum für den sozialen Status ist. Absolut arme Menschen können sich selbst die basalen Konsumgüter, die der Existenzsicherung dienen, kaum leisten. Es reicht vielleicht noch für Lebensmittel, die den Kalorienbedarf abdecken, aber für mehr nicht. Relativ arme Menschen können ihre Existenz sichern, sie haben beispielsweise Zugang zu Medikamenten. Aber sie können sich sehr viele als normal angesehenen Konsumgüter nicht leisten. Dazu gehören beispielsweise Kleidung, Reisen, Veranstaltungsbesuche und Autos. Relativ reiche Menschen können sich all diese Konsumgüter leisten und zwar auf besonders hervorgehobene Weise. Ihre Kleidung, Reisen, Veranstaltungen und Autos erscheinen besonders wertvoll. Absolut reiche Menschen können sich einen traumhaften Luxus erlauben, der für andere Menschen ganz unerreichbar und geradezu unvorstellbar erscheint.
In einem dritten Schritt führen wir die beiden ersten Teile zusammen und argumentieren in zwei Schritten für den Zusammenhang von Würde, Ungleichheit und Status. Die Würde des Menschen hängt von der Anerkennung als gleichrangiges Gesellschaftsmitglied ab. In Marktgesellschaften hängt die Anerkennung als gleichrangiges Gesellschaftsmitglied vom sozioökonomischen Status ab. Große Ungleichheit führt also zu einer mangelnden Anerkennung und damit zu einer Verletzung der Würde der Armen.
Konsum und soziale Ungleichheit – Befunde der Sozioökonomischen Berichterstattung 3 (soeb3)
Dr. Irene Becker | Empirische Verteilungsforschung, Riedstadt und Institut für empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung (INES), Berlin
Mit den im Rahmen der Sozioökonomischen Berichterstattung (Förderung durch das BMBF 2013 bis 2016) durchgeführten Konsumanalysen wird die gängige, an Einkommen und Vermögen anknüpfende Messung von Wohlstand um einen wesentlichen Teilhabeaspekt erweitert. Denn die letztlich aus den finanziellen Ressourcen resultierenden Konsummöglichkeiten und der faktische Konsum sind als Indikatoren von Teilhabe weniger abstrakt und damit direkter als die Ressourcen selbst, wie im Stiglitz-Sen-Fitoussi-Report (2009) betont wird. Daneben wird das Pendant zum Konsum, also das Sparen bzw. Entsparen (durch Vermögensauflösung oder Kreditaufnahme), gleichermaßen im Auge behalten, da sich auch darin individuelle Handlungsspielräume bzw. -grenzen und künftige Teilhabemöglichkeiten spiegeln. Ausgangspunkt ist ein in soeb 3 entwickeltes Konzept mit zweidimensional – nach relativen Einkommenspositionen und Vermögensbeständen – abgegrenzten Wohlstandsschichten. Für diese Schichten werden auf Basis der Einkommens- und Verbrauchsstichproben (EVS) gruppenspezifische Konsumausgaben und Vermögensbildungen bzw. -auflösungen als Indikatoren für Ungleichheit, Armut und Reichtum berechnet.
Die Gruppe in materieller Armut kann – trotz Verschuldung – nur etwa die Hälfte des Durchschnitts für den Konsum aufbringen. Demgegenüber wird bei reicher Ressourcenausstattung das Dreifache des Gesamtdurchschnitts für den Konsum ausgegeben, wobei noch gut ein Fünftel des Einkommens für die Vermögensbildung verbleiben. Dabei verändern sich die Konsumstrukturen mit steigendem Wohlstand, da bei den Grundbedarfen – z. B. Nahrungsmittelausgaben – Sättigungsgrenzen erreicht werden, Ausgaben für soziale Teilhabe aber weiter steigen. Dementsprechend ist die Diskrepanz der schichtspezifischen Konsumniveaus für einzelne Gütergruppen unterschiedlich. Beispielsweise machen bei Paaren mit zwei Kindern die Ausgaben für Nahrungsmittel der reichen Gruppe „nur“ das 1,5-fache der entsprechenden Ausgaben der in materieller Armut lebenden Familien dieses Typs aus, die Ausgaben für Freizeit, Unterhaltung und Kultur, die auch viele bildungsrelevante Positionen umfassen, mehr als das 4-fache (2008); von Chancengerechtigkeit sind wir also weit entfernt – trotz nachweislicher elterlicher Bemühungen in unteren Wohlstandsschichten zur Förderung der Kinder. Besonders große Einschränkungen und zudem starke Veränderungen der Konsumteilhabe zeigen sich für die Bevölkerung mit Bezug von Mindestsicherungsleistungen. Ein Vergleich der Situation der Arbeitslosenhilfe- bzw. Sozialhilfebeziehenden des Jahres 2003 mit der der Grundsicherungs- bzw. Sozialhilfebeziehenden nach der Hartz IV-Reform (2008 und 2013) zeigt in fast allen Konsumbereichen reale Einbußen der Betroffenen. Generell sind die Ausgaben für gesellschaftliche Teilhabe besonders stark gesunken, weil ein zunehmender Teil der verknappten Mittel für Ernährung und Wohnen aufgebracht werden musste – ohne den Preisanstieg bei diesen Gütergruppen kompensieren zu können.
Literatur
Stiglitz, Joseph E., Amartya Sen und Jean-Paul Fitoussi. 2009. Mismeasuring our lives: why GDP doesn’t add up. The report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress. https://ec.europa.eu/eurostat/documents/118025/118123/Fitoussi+Commission+report.
Selbst schuld? Vom Marktausschluss zu Ansätzen für eine sozialpolitisch inklusive Verbraucherpolitik
Dr. Katharina Witterhold und Maria Ullrich, M. A. | Universität Siegen
Ausgehend von der Beobachtung, dass in der Verbraucherforschung und -politik ein marktbezogenes Konsumverständnis dominiert, wird in diesem Vortrag der Frage nachgegangen, welche Konsequenzen sich daraus für Verbraucher ergeben, die aufgrund ihrer rechtlichen und ökonomischen Situation nur eingeschränkten Zugang zu Konsumgütermärkten haben. Empirisch wird dies u. a. gezeigt am Beispiel des Konsums von Geflüchteten. Diese Auseinandersetzung ermöglicht einen veränderten Blick auf die Verbraucherforschung und den Konsum zweiter Ordnung, insbesondere im Hinblick auf grundlegende Güter wie (Wohn-)Raum und medizinische Versorgung. Aufgrund eines beschränkten Zugangs zu diesen Gütern, da Asylsuchende bspw. nur Anspruch auf eine Notfallversorgung haben, ergibt sich die Gefahr eine „dauerhaften Unterschichtung“ (Butterwege und Butterwege 2016). Die Einschränkung von Verbraucherautonomie wird insbesondere durch hybride Konstellationen bei der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften deutlich, wenn Geflüchtete zwar Konsumenten, aber keine Kunden sind, und keine Möglichkeiten von Exit und Voice bestehen.
Anhand dieser Perspektive wird ersichtlich, dass in der deutschsprachigen Konsumsoziologie kaum Ansätze vorhanden sind, die eine intersektionale Sichtweise bei der Erforschung von Konsumverhalten berücksichtigen. Fraglich ist, warum soziale Ungleichheitsforschung und Verbraucherforschung so geringe Überschneidungsflächen aufweisen. Wie Bosch (2011) vermutet, liegt es womöglich an der spezifischen Ausrichtung der Armutsforschung in Deutschland, dass eine Öffnung des begrifflichen Instrumentariums hin zu den mit Armutserfahrungen mitkonstituierten Lebenswelten misslingt. Das Beharren auf einem primär rechtlichen Verständnis des Verbrauchers geht jedoch mit dem Verlust sozialwissenschaftlicher Erklärungskraft und einer Blindheit für einen nicht unwesentlichen Teil dessen einher, was Konsum(praktiken) mitkonstituiert. Dies ist besonders deshalb problematisch, da eine Konsumsoziologie, die Fragen nach den Bedingungen und Folgen von Exklusion nicht grundlegend in ihrem Theorieverständnis adressiert, auch an Potential einbüßt, sozial- und verbraucherpolitische Prozesse kritisch begleiten und hinterfragen zu können.
Ansätze für eine sozialpolitisch inklusivere Verbraucherpolitik lassen sich nicht zuletzt mit Blick auf die Geflüchteten ableiten, bei denen die Folgen von Marktexklusion aufgrund vielschichtiger Problemlagen besonders sichtbar werden. So könnte eine echte Verbraucherautonomie, die den Bewohnern von Unterkünften eine Wahlmöglichkeit und Mitspracherechte zuschreibt, einer Deprivation entgegenwirken. Letztere verweisen auch auf die Notwendigkeit von Räumen, in denen Verbraucherinteressen – und zwar von allen Verbrauchern – unabhängig von individueller Rechtsdurchsetzung artikuliert werden können. Schließlich stellt sich insbesondere vor dem Hintergrund transnationaler Interdependenzen die Frage, wie sich die überlappenden Herausforderungen an der Schnittstelle von Armut, Konsum und Arbeitslosigkeit in den Prozess der Interessenartikulation und -mediation einbetten lassen.
Literatur
Bosch, Aida. 2011. Konsum und Exklusion: Eine Kultursoziologie der Dinge. 2., unveränderte Auflage. Kultur und soziale Praxis. Bielefeld: transcript.
Butterwegge, Christoph und Caroline Butterwegge. 2016. Sozialstaat auf der Flucht? – Migration und Armut in Deutschland. Migration und Soziale Arbeit 36, Nr. 2: 154-162.
Zur sozialen Stratifizierung des Fleischkonsums in Deutschland
Laura Einhorn, M. A. | Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln
Der hohe Fleischkonsum in westlichen Industriestaaten wird schon länger nicht nur wissenschaftlich, sondern auch verstärkt öffentlich und medial kritisiert; die Anzahl an VegetarierInnen ist in Deutschland in den letzten Jahren merklich angestiegen. Diese gesamtgesellschaftlichen Trends verschleiern jedoch die Tatsache, dass Fleischkonsum nicht nur im zeitlichen Verlauf und zwischen Kulturen und Nationen unterschiedlich ausfällt, sondern dass er auch innerhalb dieser ungleich verteilt, also sozial stratifiziert ist. Dies kann nicht nur ein Hindernis für eine langfristige und nachhaltige Reduktion des gesamtgesellschaftlichen Fleischverbrauchs sein, sondern birgt auch das Risiko, dass mit hohem Fleischkonsum verbundene Gesundheitsrisiken ungleich auf soziale Gruppen verteilt werden. Inwiefern spiegeln sich also soziale Klassenunterschiede im Fleischkonsum und welche Mechanismen liegen diesen Mustern zugrunde?
Es ist zunächst sinnvoll, zwischen einer Reduktion des Fleischkonsums – z. B. dem ‚Flexitarismus‘ – und dem kompletten Verzicht, also dem Vegetarismus zu unterscheiden. FlexitarierInnen und VegetarierInnen zeigen nicht nur unterschiedliche soziodemographische Merkmale, sondern führen häufig auch andere Motive für ihre Konsumentscheidungen an. Daten der Einkommens- und Verbraucherstichprobe 2013 zeigen für Deutschland, dass die Wahrscheinlichkeit einer vegetarischen Ernährung mit dem Bildungsniveau, dem Studierendenstatus und in Single-Haushalten ansteigt und – zumindest im niedrigen Einkommensbereich - mit steigendem Einkommen abnimmt. Der Fleischkonsum nicht-vegetarischer Personen ist ebenfalls tendenziell geringer bei höherer Bildung sowie bei beruflicher Selbstständigkeit. Das Einkommen hat keinen Effekt auf die konsumierte Fleischmenge; bei höheren Einkommen wird allerdings höherwertiges Fleisch konsumiert. Während formale Bildung die Wahrscheinlichkeit einer vegetarischen oder flexitarischen Ernährungsweise erhöht, verschiebt sich mit steigendem Einkommen die Tendenz hin zum bewussten Flexitarismus, bei dem teurere Produkte konsumiert werden. Semi-strukturierte Interviews mit VegetarierInnen und Nicht-VegetarierInnen zeigen, dass der Großteil der KonsumentInnen sich der negativen Konsequenzen exzessiven Fleischkonsums für Gesundheit und Umwelt bewusst ist. Unterschiede im Konsum manifestieren sich vielmehr über die unterschiedliche Ausstattung von KonsumentInnen mit kulturellem, ökonomischem und sozialem Kapital (Bourdieu), welche eine Umsetzung alternativer Ernährungsformen erst ermöglichen. Die Aneignung einer alternativen Ernährungsweise setzt Wissen über alternative Zutaten, Zubereitungstechniken und Rezepte voraus, welches über internationale Reisen, Restaurantbesuche und soziale oder geografische Mobilität erworben wird. Dieser ‚kulinarische Kosmopolitismus‘ ermöglicht oder begünstigt Flexitarismus und Vegetarismus und korreliert in hohem Maße mit kulturellem Kapital. Außerdem ist es für Personen mit hoher formaler Bildung oder hohen Einkommen einfacher, soziale Ernährungsnormen zu verletzen ohne einen signifikanten Teil ihrer gesellschaftlichen Anerkennung einzubüßen. Soziale Anerkennung wird durch die Zusammensetzung von Kapitalien bedingt; daher ermöglichen kulturelles und ökonomisches Kapital einen risikoreicheren Umgang mit sozialem Kapital.
Welche Potenziale bietet die Selbstorganisation der VerbraucherInnen zur Vermeidung von sozialer Ungleichheit in Bedarfsfeldern des Konsums?
Dr. Herbert Klemisch und Moritz Boddenberg, M. A. | Wissenschaftsladen Bonn
Bei der Behebung der Folgen sozialer Ungleichheit, also der Bekämpfung von Wohnungsnot, der Reduzierung von Energie- und Ernährungsarmut wird in der Regel nach staatlichen Lösungs- und Umverteilungsansätzen gesucht. Auch Politik und die Sozialwissenschaften fragen eher selten, welche Möglichkeiten im Eigenengagement der Konsumenten als Hilfe zur Selbsthilfe und damit zur Überwindung oder Reduzierung von Armut liegen.
Bei den wenigen Analysen des Bürgerengagements bleibt zudem eine Organisationsform weitgehend ausgeklammert, die entstanden ist, um soziale Ungleichheit durch gemeinsames Engagement ihrer Mitglieder abzubauen. Gemeint sind hier die Genossenschaften, die unter dem Motto, „Was einer nicht vermag, das vermögen Viele“ (Friedrich Wilhelm Raiffeisen), gegründet wurden, um Auswüchse sozialer Ungleichheit oder Armut einzudämmen und die Mitglieder mit preiswertem Wohnraum, erschwinglichen Lebensmitteln und Elektrizität zu versorgen (Novy und Prinz 1985).
Potentiale für die Überwindung von Armut und sozialer Ungleichheit vermuten wir auch heute in einer Rückbesinnung auf Eigenverantwortung und solidarische Werte, z. B. wenn Initiativen und Unternehmen durch die Anwendung genossenschaftlicher Prinzipien (Förder-, Identitäts-, Demokratie- und Solidaritätsprinzip) einen Beitrag für ihre Mitglieder und Beschäftigten aber auch zum Gemeinwohl leisten.
Anknüpfungspunkt in der Verbraucherforschung ist der Ansatz von Nelles und Beywl (1984), die sich mit der Frage beschäftigten, ob Selbstorganisation eine Alternative für Verbraucher sei? Dabei unternahmen sie den Versuch, das zu quantifizieren, was sie als neue Selbstorganisation definiert hatten: „Sie sind explizit nicht-kommerziell und basisdemokratisch, informell und wehren sich damit sowohl gegen die Steuerung durch Geld (Profit) als auch durch bürokratische Macht. […] Konkrete Inhalte sind unter anderem die Betonung von Beziehungen und Gemeinschaftsleben, Entscheidungsfindung durch den Diskurs Gleichberechtigter, genossenschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln und Wiederannäherung an ein ökologisch angepasstes Leben“ (Nelles und Beywl 1984, 80). Sie ermittelten 18.000 Selbsthilfegruppen, denen auch 2000 Betriebe der alternativen Ökonomie zugeordnet wurden. Dies ist die letzte systematische Erfassung von Selbsthilfeansätzen.
Heute haben wir es mit über 1000 Energiegenossenschaften, über 200 Betrieben und 150 Initiativen der Solidarischen Landwirtschaft zu tun. Daneben existieren eine Vielzahl von genossenschaftlichen Projekten im Wohnungsbereich mit unterschiedlichster Ausrichtung und geschätzte 200 Dorfladenprojekte zur Sicherung der Einkaufsstrukturen für benachteiligte Gruppen im ländlichen Raum (Klemisch und Heins 2016). Damit ist nur ein Teil der vielfältigen Formen von Selbstorganisation der Verbraucher erfasst: Repair Cafes, Urban Gardening, Tauschbörsen, Car-Sharing etc. runden das Bild ab, deren Vielfalt und Umfang wächst.
Soziale Innovation, ökologische Entlastung und Ressourcenschonung, Gemeinschaftsorientierung, Solidarität und Selbsthilfe zur Überwindung von Armut und Knappheit sind gemeinsame Merkmale dieser Ansätze. Die Forschung zu Selbstorganisation als Möglichkeit der Verbraucherpolitik steht aber erst am Anfang, obwohl fast alle relevanten Bereiche der Verbraucherpolitik tangiert werden und durch solidarisches Handeln auch Lösungen zur Armuts- oder Mangelbekämpfung angeboten werden. Bisher existiert weder eine sektorübergreifende Forschung noch ein kriteriengeleitetes Inventar der Projekte. Wir plädieren für mehr sozial-ökologische Forschung zu den Potenzialen von Selbstorganisation.
Literatur
Klemisch, Herbert und Bernd Heins. 2016. Strukturwandel im ländlichen Raum. spw, Nr. 1: 55-60.
Nelles, Wilfried und Wolfgang Beywl. 1984. Selbstorganisation, Alternativen für Verbraucher: Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen, Mieterorganisation, Bürgerbeteiligung, neue soziale Bewegungen. Campus Forschung 365. Frankfurt am Main: Campus.
Novy, Klaus und Michael Prinz. 1985. Illustrierte Geschichte der Gemeinwirtschaft: Wirtschaftliche Selbsthilfe in der Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1945. Berlin: Dietz.
Aufsuchender Verbraucherschutz im Quartier – Die zunehmende soziale Spaltung in deutschen Städten und ihre Implikationen für die Verbraucherarbeit
Manuel David | Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen e. V.
Die Distanz zwischen den Lebensverhältnissen der oberen Gesellschaftsschichten und den Bewohner_innen von Quartieren mit Entwicklungsbedarf wird immer größer. Die gegenwärtige Ungleichheit der Lebensverhältnisse in deutschen Städten zeigt sich am deutlichsten in der zunehmenden sozialen Spaltung.
Das Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin veröffentlichte 2018 eine Studie über die soziale Spaltung in deutschen Städten. Die Ergebnisse sind alarmierend. In beinahe allen deutschen Städten bleiben arme Menschen vermehrt unter sich. In deutschen Großstädten entstehen gemiedene Gebiete, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner oft nur wohnen, weil es für sie keine finanzierbaren Alternativen gibt. In Ost-Deutschland vollzieht sich diese Entwicklung zudem ungleich schneller und intensiver. Die soziale Segregation hat in vielen ostdeutschen Städten rasant zugenommen und erklärt sich mittlerweile beinahe vollständig über die Ballung von Transferleistungsempfängern in Großsiedlungen (Helbig und Jähnen 2018). Hier ballen sich nicht nur Transferleistungsempfänger_innen, die Großsiedlungen
sind von der wirtschaftlichen Entwicklung des Umlandes zudem noch entkoppelt. An diesen Quartieren gehen positive Entwicklungen entweder völlig vorbei oder aber sie haben einen weitaus geringeren Effekt (Helbig und Jähnen 2018). Die wachsende soziale Ungleichheit, unterstützt durch eine architektonische Ungleichheit der Lebenswelten, kann sich negativ auf das gegenseitige Verständnis innerhalb der Gesellschaft auswirken. Die Stigmatisierung der Bewohner_innen der Großsiedlungen reduziert ihre gesellschaftlichen Chancen und begünstigt die Entstehung eines Selbstverständnisses als ausgegrenzte Personengruppe.
Das ohnehin geringe individuelle Selbsthilfepotenzial wird durch die fehlende soziale Durchmischung zusätzlich geschwächt, da verletzliche Verbraucher_innen im Quartier nur auf ebenso verletzliche Personen treffen können. Anbieter wissen schon längst, dass sie in diesen Gebieten auf wenig Verbraucherkompetenz stoßen werden und nutzen dies teilweise gezielt aus.
Die Verbraucherzentralen versuchen daher jüngst mit einem lebensnahen Modell der Beratung, dem aufsuchenden Verbraucherschutz, die Bewohner_innen dieser Quartiere zu befähigen, ihren Verbraucherproblemen selbst zu begegnen. Dabei versuchen die Verbraucherzentralen über die herkömmlichen Einzelfallhilfen hinaus zu gehen und stattdessen einen Ansatz zu wählen, der am ehesten dem Konzept der Sozialraumorientierung gleicht, dessen primäre Ziele die Gestaltung von Lebenswelten und die Schaffung von Verhältnissen sind, die den Menschen helfen, mit ihren Lebenslagen besser zurechtzukommen. In enger Kooperation mit den Akteuren im Quartier, wie den Trägern der freien Wohlfahrtspflege und dem Quartiersmanagement, soll niedrigschwellige Verbraucherinformation möglichst breit gestreut werden, sodass viele Probleme erst gar nicht entstehen. Das Bundesprojekt „Verbraucher stärken im Quartier“ läuft noch bis 2024 im Rahmen der ressortübergreifenden Strategie zur Sozialen Stadt und ist
in 16 Quartieren (pro Bundesland ein Quartier) fester Bestandteil der Städtebauförderung.
Literatur
Helbig, Marcel und Stefanie Jähnen. 2018. Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten. Discussion Paper P 2018-001. Berlin: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
Armut, Überschuldung und Finanzdienstleistungen
Dr. Sally Peters | institut für finanzdienstleistungen e.V. (iff), Hamburg
Der Zugang zu Finanzdienstleistungen ist essenziell, aber für Menschen mit geringem Einkommen häufig eingeschränkt. Diese haben kaum finanzielle Rücklagen geschweige denn Sicherheiten. Bei Krediten haben sie regelmäßig weniger Optionen bei der Angebotsauswahl und müssen dann den angebotenen Konditionen zustimmen. Probleme bereitet dies insbesondere Migrantinnen und Migranten und überschuldeten Personen. Das institut für finanzdienstleistungen (iff) hat kürzlich in einer Studie zur Kreditvergabepraxis in Deutschland auf leichtfertige Kreditvergabe aufmerksam gemacht. Anhand von deutschlandweiten Testkäufen wurden in 94 Tests 166 Ratenkreditangebote eingeholt. Die zentrale Frage war dabei, inwieweit die Beratung dazu geeignet ist, den Kundinnen und Kunden ein geeignetes Produkt zu verkaufen.
Insbesondere Banken als Kreditanbieter haben eine hohe Expertise im Kreditgeschäft. Sie sind in der Frage der Beurteilung der Rückzahlungsfähigkeit in vielen Fällen dem Kreditantragsteller überlegen. Daraus aber erwächst für sie eine besondere Verantwortung. Die Analyseergebnisse lassen nicht darauf schließen, dass die Kreditinstitute dieser Verantwortung angemessen gerecht werden. Die Testergebnisse vermitteln den Eindruck, dass Banken zwar bemüht sind, sich selbst gegen das Kreditrisiko abzusichern – allerdings ohne, dass dies zu Lasten der Rendite geht. Die von den Kreditinstituten angewendeten Maßnahmen gehen häufig zu Lasten der Verbraucherinnen und Verbraucher. Ein Beispiel ist die Restschuldversicherung. Weiterhin problematisch ist die oftmals unzureichende Haushaltsanalyse. Eine schlechte Beratung bei Ratenkrediten kann zu einem deutlich überhöhten Überschuldungsrisiko führen.
Der alljährliche Überschuldungsreport zeigt seit 2006 eindrücklich die Entwicklungen der Überschuldung in Deutschland auf. Er zeigt: Mehr als ein Viertel der Überschuldeten gibt über die Hälfte ihres Einkommens für Wohnkosten aus. Erfolgt die Ermittlung von Mieten nur anhand von Budgets, wird das tatsächliche Kostenrisiko nicht abgebildet. Der Kredit kann womöglich nicht gezahlt werden, es kommt zu Zahlungsrückständen und schließlich zur Kündigung des Kredits. Aus der Verschuldung wird eine Überschuldung. Aktuell gelten 6,9 Millionen Personen als überschuldet und weisen „nachhaltige Zahlungsstörungen“ auf, das entspricht einer Überschuldungsquote in Höhe von 10,04 Prozent der Bevölkerung und betrifft somit jede 10. Person. Eine mangelhafte Haushaltsanalyse bei der Kreditaufnahme kann das Überschuldungsrisiko signifikant erhöhen. Zusammenfassend lässt sich feststellen: Risiken wie alleinerziehend sein, hohe Wohnkosten aber auch Arbeitslosigkeit können das Risiko einer Überschuldung signifikant erhöhen. Finanzielle Bildung wird gleichzeitig oftmals als Verhinderer von Überschuldung genannt. Ohne Frage bedarf es niedrigschwelliger Weiterbildungsmöglichkeiten in diesem Bereich, die vorgestellten Ergebnisse zeigen aber auch: Es bedarf gleichzeitig Verbraucherschutz und Finanzmarktregulierung.
Die Schuldner- und Insolvenzberatung der Verbraucherzentrale NRW
Christoph Zerhusen | Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen e. V.
Der Vortrag bietet einen Überblick über die Verbraucher- und Insolvenzberatung der Verbraucherzentrale Nordrhein- Westfalen. Inhaltlich werden Überschuldungsrisiken, die einzelnen Arbeitsschritte der Schuldnerberatung und das Verbraucherinsolvenzverfahren dargestellt. Im Kern stellen die Schuldner- und Insolvenzverfahren ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung von Überschuldung dar. Überschuldung wird hierbei als Massenphänomen begriffen, dem durch Vorhaltung eines flächen- und bedarfsdeckenden Angebotes wirksam begegnet werden kann.
Downloads:
- Präsentation | Prof. Dr. Christian Neuhäuser und Meike Drees, M. Ed.
- Präsentation | Dr. Irene Becker
- Präsentation | Dr. Katharina Witterhold und Maria Ullrich, M. A.
- Präsentation | Laura Einhorn, M. A.
- Präsentation | Dr. Herbert Klemisch und Moritz Boddenberg, M. A.
- Präsentation | Manuel David
- Präsentation | Dr. Sally Peters
- Präsentation | Christoph Zerhusen