Rezension von Prof. Dr. Birger P. Priddat (Universität Witten/Herdecke)
Piorkowsky, Michael-Burkhard. 2020. Ökonomie ist menschlich: Wirtschaft und Wirtschaftslehre neu gedacht. Wiesbaden: Springer Gabler.
Umfang: VIII, 140 Seiten | ISBN (Print): 978-3-658-30613-7 | ISBN (E-Book): 978-3-658-30614-4 | Preis (Print): 39,99 EUR | Preis (E-Book): 29,99 EUR | Inhaltsverzeichnis
Das eher kleine Lehrbuch (von 140 Seiten), das Mikro- und Makroökonomie im sechsten und letzten Kapitel („Ökonomie als Wissenschaft“) in die Theoriegeschichte der Ökonomie einreiht (6.3.), zeigt tatsächlich Mut zum Neudenken der Wirtschaft. Gewöhnlich sind Mikro- und Makroökonomie die dominanten Kerne der Wissenschaft, jedenfalls in Lehrbüchern. Piorkowskys Buch ist ein interessantes Rearrangement vieler Forschungen zur Wirtschaft, in völlig ungewohnter Gliederung, aus der neue Schwerpunkte sichtbar werden.
Insgesamt dient es der Reinterpretation vieler sozialer und Nichtmarkthandlungen als ökonomische Handlungen – nicht im Sinne einer „imperialistischen“ Übernahme, sondern als Nachweis der inzwischen gewachsenen Kompetenz einer erweitert gedachten Ökonomik. In verschiedenen Aspekten kommt er immer wieder auf den Haushalt und seine unterschätzte ökonomische Relevanz zu sprechen.
Ökonomie als „Teil der Welt“ und als „Güterwelt“
Im zweiten Kapitel stellt Piorkowsky die Welt der Ökonomie in drei Dimensionen vor: als Geldkreislaufsystem, als „materielles Durchflusssystem“ und als ein „mehrdimensionales Transformationssystem“. Abbildung 2.3 (S. 17) ist als ein „operationales Weltsystem“ zwar ganzheitlich, aber dennoch hochabstrakt.
Anders als gewohnt reflektiert Piorkowsky die Güterwelt im dritten Kapitel anknüpfend an die Betrachtungen über Knappheitsempfindungen verschiedener Art, wie die Zentralprobleme des Wirtschaftens in ausgewählten Bereichen durch Organisationen und Regelsysteme, wie Märkte, politische Wahlen und Gruppenverhandlungen sowie spezialisierte Betriebe, gelöst werden. Piorkowsky operiert mit einem Knappheit-Bedürfnis-Schema, das er sogleich in Organisationsweisen der Gütererstellung überführt – ein eigentlich transdisziplinärer Ansatz, der mit der Governance-Theorie Williamsons, aber auch mit der „Neuen Organisationstheorie“ fruchtbar verschaltet werden könnte. Dabei fokussiert er sich auf private Verbände, Kollektivgüter und staatliche öffentliche Güter. „Private Haushalte sind spezialisierte Betriebe für die Organisation der ersten und letzten Produktions- und Konsumprozesse“ (S. 35). Man sieht, wie Piorkowsky die Wirtschaft organisational (und institutional) konzipiert. Die komplexe ökonomischen Formierungen von Haushalten und Familien sind ein Schwerpunkt des dritten Kapitels (S. 35-39). Michael-Burkhard Piorkowsky ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Haushalts- und Konsumökonomik; die Schwerpunktbildung (auch Kapitel 4.1) entspringt seinen Forschungen.
„Ökonomie als Selbstorganisation“
Im vierten Kapitel wird hauptsächlich die Gründung und Entwicklung privater Haushalte, privater Unternehmen und privater Verbände näher betrachtet und damit die Gestaltung der Ökonomie von unten hervorgehoben. Im dritten und vierten Kapitel erfahren wir eine Wirtschaft, die sich aus verschiedenen Akteursformen heraus betreibt. Auffällig ist die neue Betonung der Haushalte und ihrer Produktionen. Piorkowsky behandelt Familien unter Gründungsaspekten (Kapitel 4.1), wie Unternehmen (Kapitel 4.3). Das sind ungewohnte Herangehensweisen, in denen Familien – wie bei Gary S. Becker – Produktionsformationen sind. Nirgends werden Rational-Choice-Schemata verwendet, außer später im sechsten Kapitel in der Theoriegeschichte (S. 115 ff.). Wieder stehen die Organisationsformen der Wirtschaft im Zentrum (und nicht nur die der Märkte, sondern der breiten Ökonomie), nun aber als emergente Phänomene: wie sie entstehen, sich gründen und stabilisieren. Dabei spielen die institutionellen Bedingungen eine wichtige Rolle.
Ökonomie „als Bildungsgut“ und „als Wissenschaft“
Im fünften Kapitel werden Wirtschaftsbildungskonzepte durchleuchtet und vor allem ein eigenes Konzept vorgestellt, das die Lücken im herrschenden Angebot schließen kann und insbesondere die Bedeutung der Selbstorganisation bei der Gründung und Entwicklung der ökonomischen Grundeinheiten, Haushalte, Unternehmen und Verbände, hervorhebt. Getreu seiner Fokussierung auf Haushalte und deren Konsum entfaltet der Autor in Kapitel 5 u. a. ein Konzept der Verbraucherbildung.
Das sechste und letzte Kapitel, gewöhnlich der eigentliche Inhalt von Lehrbüchern, enthält eine knappe, aber sinnvolle Theoriegeschichte, in die die neuen Entwicklungen der Ökonomie – Institutionen- und Transaktionskostenökonomie, Verhaltensökonomie, Evolutorische Ökonomik, eine neue Haushalts- und Familienökonomik – eingearbeitet sind. Diese Darstellungsweise ist konsequent, da Piorkowsky die Ökonomie als einen historischen Entwicklungsprozess sieht. Der letzte Abschnitt lautet „Zukunft der Ökonomik“. Wer wagt das sonst in einem Lehrbuch, das ja eher von vielen Kollegen als Brevier „gesicherten“ Wissens betrachtet wird.
Das sechste Kapitel enthält einen knappe, aber pointierte Theoriegeschichte der Ökonomie, die sich dem aristotelischen Anfang genauer widmet (als „Haushalts-Ökonomik“, S. 105 f.) und es ermöglicht, die spätere Entwicklung immer wieder an den dort entfalteten grundlegenden Fragestellungen zu prüfen. Obwohl kurz gefasst, ist die von ihm aufgeführte Literatur kenntnisreich und oft neuerer Art, und, in ihrer Dichte, höchst empfehlenswert. Zwei Aspekte sind im sechsten Kapitel bemerkenswert: dass der Autor die Theoriegeschichte bis in die Mikro- und Makroökonomie führt (die im eigentlichen Lehrbuch kaum eine Rolle spielen), und zum anderen, dass er danach, nunmehr nicht mehr theoriegeschichtlich sequenziert, den Fächer neuer ökonomischer Konzepte und Theorie auffaltet: Evolutorische Ökonomik, Institutionen- und Transaktionskostentheorie, Ökologische Ökonomik, Verhaltensökonomik und die neue Haushalts- und Familienökonomik. Damit bleibt die Frage nach der Zukunft der Ökonomik offen; Piorkowsky hat aber bereits alle Register gezogen. Seine eigene Darstellung ist wiederum selbst ein Teil des offenen Registers: man könnte eine Art von organisationstheoretischer Ökonomie darauf fertigen. Wenn man dann noch wirtschaftssoziologische und netzwerktheoretische Komponenten hinzunähme, könnte Piorkowsky in sein Register noch seine eigene Konzeption einreihen.
Ein kleines beachtliches Buch, das eine eigene Sichtweise auf das Wirtschaftliche wagt, welche Zukunftspotential hätte, wenn man sie ausarbeitete.
Empfohlene Zitierweise | Priddat, Birger P. 2021. Mut zum Neudenken der Wirtschaft (Rezension). Re: Neuerscheinung (Kompetenzzentrum Verbraucherforschung NRW). 19. Januar. https://www.verbraucherforschung.nrw/aktuell/kvf-re-neuerscheinung/mut-zum-neudenken-der-wirtschaft-priddat-rezension-piorkowsky-oekonomie-ist-menschlich-56057.
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Die Rezension gibt die Meinung des Autors wieder und muss nicht mit den Meinungen und Positionen des KVF NRW und der Verbraucherzentrale NRW e. V. übereinstimmen.