von Dr. Katharina Witterhold (Universität Siegen)
Nessel, Sebastian, Nina Tröger, Christian Fridrich und Renate Hübner, Hrsg. 2018. Multiperspektivische Verbraucherforschung: Ansätze und Perspektiven. Kritische Verbraucherforschung. Wiesbaden: Springer.
Umfang VI, 279 Seiten | ISBN Print 978-3-658-20198-2 | ISBN E-Book (PDF) 978-3-658-20199-9 | Preis Print: 34,99 EUR | Preis E-Book: 26,99 EUR | Inhaltsverzeichnis
Die Verbraucherforschung im deutschsprachigen Raum ist in Bewegung geraten. Es wurden u. a. Anstrengungen einer stärkeren Vernetzung von Verbraucherwissenschaftlern unternommen, bspw. durch Gründung eines Netzwerks Verbraucherforschung und der Ausrichtung entsprechender internationaler und nationaler Konferenzen (u. a. International Conference Consumer Research, Jahrestagung des Netzwerks Verbraucherforschung, Symposium „Konsum neu denken“ in Österreich). Diese und weitere Aktivitäten können als Anzeichen einer sich andeutenden Institutionalisierung gewertet werden. Gleichwohl steht die sich neu formierende Verbraucherforschung vor der Herausforderung, dass diese Institutionalisierung vergleichsweise spät erfolgt. Ob diese gelingt, wird vor allem von der Bewältigung zweier Herausforderungen abhängen: Der Notwendigkeit der Identifikation einer verbraucherwissenschaftlichen theoretischen Basis sowie der Schwierigkeit der Formulierung einer gemeinsamen „Marschrichtung“. Als wesentliche Beiträge zur Adressierung dieser Herausforderungen einer inter- und transdisziplinären Verbraucherforschung können sowohl der Sammelband „Verbraucherwissenschaften“ (Kenning et al. 2017), die mittlerweile acht Bände starke Schriftenreihe „Beiträge zur Verbraucherforschung“ (zuletzt Bala und Schuldzinski 2018) sowie die Buchreihe „Kritische Verbraucherforschung“ und hier insbesondere der zweite Band der Reihe „Multiperspektivische Verbraucherforschung“ (Nessel et al. 2018) gezählt werden. Dabei unterscheiden sich beide Entwürfe nicht unerheblich voneinander, sowohl, was das zugrundeliegende Verständnis von Konsum betrifft, wie auch das Verhältnis, welches Verbraucherforschung respektive -wissenschaften zukünftig gegenüber Politik, Wirtschaft und den Verbrauchern selbst einnehmen möchte.
Bereits der erste, 2017 in der Buchreihe „Kritische Verbraucherforschung“ erschienene Band, leitete den „Abschied vom eindimensionalen Verbraucher“ ein, um der immer schon vorhandenen, sich aber durch Meta-Prozesse wie Globalisierung und Digitalisierung noch verstärkenden Komplexität und Dynamisierung von Konsumhandeln Rechnung zu tragen. Nun geht es, im Unterschied zu „Verbraucherwissenschaften“, darum, Konsum auch jenseits von Transaktionen auf Konsumgütermärkten sichtbar und einer Verbraucherforschung zugänglich zu machen (Fridrich et al. 2017, 7 ff.). Eine derartige Neukonzeption des Konsumbegriffs, bei dem u. a. Praktiken des Ge- und Verbrauchs jenseits der Marktentnahme sowie die Einbettung von Verbraucherhandeln in soziale und ökonomische Strukturen stärker berücksichtigt werden sollen, erfordert, so lässt sich das Anliegen des zweiten Bandes verstehen, auch eine neue bzw. multiperspektivische Verbraucherforschung. Ziel des Sammelbandes ist es, Anstöße für eine theoretische Grundlegung einer solchen Verbraucherforschung zu liefern, die explizit dem Anspruch einer trans- und interdisziplinären Herangehensweise folgt. Dabei gilt es zu einer „[g]emeinsame[n] Diskussion über Verbraucher und konsumptionsbezogene Problemstellungen und insbesondere über die damit verbundenen theoretischen, methodischen und gegenstandbezogenen Grundlagen sowie deren anvisierten ‚Ziele‘ zu kommen.“ (S. 1). Entsprechend ist der Sammelband weniger als bereits erfolgte Umsetzung von Multiperspektivität zu verstehen, sondern eher als Sondierung verschiedener Zugänge zu und damit einer Diskussionsgrundlage für die Entwicklung einer multiperspektivischen Verbraucherforschung. Dabei soll der Fokus der Forschung um „die sozialen, ökologischen und emanzipatorischen Werte, Ideen oder Vorstellungen der Konsumentinnen“ erweitert werden, statt lediglich „auf die Verbesserung der rechtlichen und ökonomischen Situation“ abzuzielen (S. 3). Die dafür ausgewählten Perspektiven reflektieren einerseits theoretische Überlegungen einer möglichen Verknüpfung von praxistheoretischen und verhaltensökonomischen Ansätzen (Beitrag von Sebastian Nessel et al.), andererseits die Herausforderungen, die sich den Verbraucherwissenschaftlern selbst bei der Umsetzung des Projekts einer multiperspektivischen Verbraucherforschung sowohl im Hinblick auf ihr Verhältnis zu Politik (Beitrag von Michael Jonas und Simeon Hassemer) wie auch der zu leistenden Vernetzungsarbeit vor dem Hintergrund noch unzureichender Institutionalisierung und nicht immer kongruenter Kooperationsaspirationen stellen (Beitrag von Renate Hübner et al.). Aufgrund des auch transformatorischen Anspruchs einer kritischen Verbraucherforschung widmen sich gleich drei Aufsätze aus – selbstverständlich – ganz unterschiedlichen Perspektiven der Verbraucherbildung und -information. Reingard Klingler hinterfragt beispielsweise, inwieweit es „Culture Jamming“ gelingen kann, insbesondere über digitale Medien Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit für verschiedene (Folge-)Probleme der Konsumgesellschaften herzustellen, ohne dabei in den Backdraft eines „Guerilla Marketing“ zu geraten (S. 157). So seien gerade besonders erfolgreiche kreative Umdeutungen von bspw. Markenlogos nicht davor gefeit, ihrerseits zu Werbebotschaften der eigentlich kritisierten Produkte bzw. Unternehmenspraktiken zu werden.
Dass sich die Probleme der Multiperspektivität vor allem auch den Verbrauchern selbst stellen, zeigen, wenn auch eher implizit, dann die Beiträge von Christian Fridrich sowie Ulrike Seebacher und Hartmut Derler. Während letztere in vergleichender Perspektive untersuchen, wie unterschiedlich die soziale Qualität von Produkten operationalisiert und erfasst wird, wird dabei vor allem auch deutlich, wie wenig adäquat derartig heterogene, umfangreiche und komplexe Berichte sind, um kritische Verbraucher bei der Umsetzung entsprechender Anliegen in ihrem Konsumalltag zu unterstützen. Aber auch für die politische Verbraucherforschung liefert dieser Beitrag einige wichtige Anregungen, insbesondere da soziale Kriterien hier wesentlich breiter gefasst und beispielsweise auch Aspekte wie soziale Inklusion und das Passungsverhältnis von Produkten im Hinblick auf die zu befriedigenden Bedürfnissen miteinschließen (S. 264 ff.). Demgegenüber setzt sich Christian Fridrich aus didaktischer Perspektive mit der Frage auseinander, wie Multiperspektivität in Verbraucherbildungsprozessen implementiert und praktisch – am Beispiel der Erweiterung des Österreichischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums durch ein Konsumerlebniszentrum – umgesetzt werden kann. Daran lassen sich nicht nur die auch schon im Beitrag von Sebastian Nessel et al. behandelten Spannungen zwischen einer am ökonomistischen und einer am sozioökonomischen Paradigma ausgerichteten Verbraucherbildung nachvollziehen (S. 39 ff.), sondern auch die besonderen Herausforderungen, denen sich eine auf die „Entfaltung einer Orientierungs-, Urteils- und Handlungsfähigkeit“ abzielenden Verbraucherbildung gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Kommerzialisierung des Alltags von Kindern und Jugendlichen, gegenübersieht (S. 220). Für Praktiker der Verbraucherbildung sind insbesondere seine Hinweise wertvoll, was mögliche Anknüpfungspunkte für die Vermittlung von verbraucherrelevanten Inhalten angeht. So schlägt Christian Fridrich vor, diese direkt mit Produkten aus der Lebenswelt der Schüler zu verknüpfen. Beispielsweise ließe sich anhand des Smartphones sowohl eine Reflexion der eigenen Denk- und Handlungsmuster anregen wie auch die Relevanz transnationaler Produktionsketten veranschaulichen.
Etwas bedauerlich ist, dass die Beiträge untereinander nicht stärker aufeinander bezogen sind. Denn gerade im Hinblick auf Verbraucherbildung hätte wiederum der Beitrag von Brigitta Lurger zum Entscheidungsverhalten von Verbrauchern am Beispiel von Mobilfunkverträgen spannende Querverbindungen enthalten. Brigitta Lurger untersucht mittels eines experimentellen Designs, ob und wie es Verbrauchern gelingt, aus den Informationen verschiedener (realitätsnah nachentwickelter) Mobilfunkanbietern ein für sie passendes Angebot herauszufiltern. Obgleich den Verbrauchern dabei Nutzungsprofile zugewiesen wurden, sie also vorab nicht selbst Kriterien zur Auswahl entwickeln mussten, gelang die optimale Auswahl nur etwas mehr als der Hälfte der Probanden (S. 127). Im Hinblick auf die von Sebastian Nessel et al. im ersten Kapitel vorgeschlagenen vier Dimensionen einer multiperspektivischen Verbraucherforschung – Konsumverständnis, Akteure und Leitbilder, Konsumfolgen sowie Aspekte der Transformation von Konsum – fällt auch die Verortung der bislang diskutierten Beiträge nicht leicht. Aufgrund der Bezugnahme auf praxistheoretische Ansätze böte sich als mögliche Ergänzung eine Dimension „Konsumpraktiken“ an.
Eindeutig zu verorten sind die zwei weiteren Theorie-Beiträge von Kai-Uwe Hellmann und Michael-Burkhard Piorkowsky. Als neues Menschenbild der Verbraucherforschung schlägt Kai-Uwe Hellmann die sich selbst erlebende Verbraucherin vor, bei der die Verbraucherrolle eines Konsums im weiteren Sinne in Abhängigkeit von unterschiedlichen Referenzsystemen betrachtet wird. Mit dem Konsumenten- bzw. Prosumentenverständnis setzt sich auch Michael-Burkhard Piorkowsky auseinander. So zeigt er eine Tendenz in der Verbraucherforschung auf, Prosumption als eine Art Sammelbegriff für die Überlappung von Produktion und Konsumption anzuwenden. Dabei würde der Begriff der Prosumption jedoch überdehnt und aus seinem ursprünglichen konzeptionellen Rahmen, bei dem die Eigenleistung der Konsumentin beim Konsum betont würde, herausgelöst. Von Prosumption abzugrenzen, so sein Vorschlag, seien solche Hybridkonstellationen, bei denen die Eigenleistung nicht auf den eigenen Konsum abziele, sondern einer Erwerbsorientierung (z. B. beim Verkauf selbst produzierten Solarstroms) folge (S. 95 ff.). Entsprechend schlägt er als neuen Begriff zur Abgrenzung von Prosuming ohne Erwerbsorientierung den Begriff des Conpreneurs vor (S. 90).
Was also kann eine multiperspektivische Verbraucherforschung leisten und welchen Beitrag leistet der gleichnamige Sammelband? Der Vorteil eines damit verbundenen, breiten Konsumverständnisses zeigt sich daran, dass Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Referenzsystemen sowie strukturelle Zwänge erfasst werden können. Zudem trägt ein multiperspektiver Zugang dem Forschungsgegenstand, dem Konsum, angemessen Rechnung. Die vielfältigen Bezüge, denen sich Verbraucher in ihrem Konsumalltag gegenübersehen, spiegeln sich idealerweise auch in dessen Erforschung wider. Gleichwohl stellt sich die Frage, wie tragfähig und belastbar die Idee einer kritischen Verbraucherforschung bei der zwangsläufig notwendigen Integration der multiplen Perspektiven ist. Während die sorgfältige Lektüre bereits zahlreiche und vielversprechende Anknüpfungspunkte für die hier vertretenen soziologischen, politikwissenschaftlichen, rechtlichen, bildungswissenschaftlichen und nachhaltigkeitsbezogenen Perspektiven offenbart, hätte ein resümierendes Kapitel dazu beigetragen, diese stärker herauszuarbeiten. Etwas vernachlässigt scheint zudem die Diskussion um Methoden der Verbraucherforschung. In dem Zusammenhang ist auch nicht ganz klar zu erkennen, wie sich Praxistheorie und Interventionsforschung zueinander verhalten (sollen).
Die Repräsentation vielfältiger Perspektiven bringt es mit sich, dass nicht alle berücksichtigt werden können. Wenngleich die Auswahl der Beiträge vor dem Hintergrund einer kritischen, transformatorisch und an Nachhaltigkeit ausgerichteten Verbraucherforschung durchaus plausibel erscheint, sei an dieser Stelle wenigstens auf drei weitere Perspektiven verwiesen, die aus meiner Sicht nicht vernachlässigt werden sollten. Dies ist einerseits die intersektionale Perspektive, die Aspekte sozialer Ungleichheit in Bezug auf Geschlecht, Armut und ethnischer Zugehörigkeit in Bezug auf Konsum reflektiert. Zweitens hat Verbraucherforschung sich in der Vergangenheit häufig selbstreferentiell nur mit dem Konsum in westlichen Gesellschaften befasst. Eine nachhaltigkeitsorientierte, kritische Verbraucherforschung kann auch von einer international vergleichenden, kultursensiblen Perspektive profitieren. Drittens könnte es sich lohnen, auch die Impulse aus der Debatte bezüglich des neuen Materialismus (z. B. Bennett 2010) aufzugreifen. Denn während die Verbraucherforschung mit der Verbraucherin im Fokus immer wieder Gefahr läuft, alte Konfliktlinien zu reproduzieren, könnte das Produkt als Akteurin ganz neue Perspektiven, aber auch Kooperationspotentiale beinhalten. Trotz dieser Kritikpunkte ist das Hauptanliegen des Sammelbandes erreicht: Er leistet einen entscheidenden Beitrag zur Etablierung einer gemeinsamen Forschungsagenda im sich neu konstituierenden Feld Verbraucherforschung (oder auch Verbraucherwissenschaften) zu leisten und zur Beförderung des interdisziplinären Diskurses.
Literaturhinweise
Bala, Christian und Wolfgang Schuldzinski, Hrsg. 2018. Jenseits des Otto Normalverbrauchers: Verbraucherpolitik in Zeiten des "unmanagable consumer". Beiträge zur Verbraucherforschung 8. Düsseldorf: Verbraucherzentrale NRW.
Bennett, Jane. 2010. Vibrant matter: A political ecology of things. Durham: Duke University Press.
Fridrich, Christian, Renate Hübner, Karl Kollmann, Michael-Burkhard Piorkowsky und Nina Tröger. 2017. Grundüberlegungen zu einer Kritischen Verbraucherforschung. In: Abschied vom eindimensionalen Verbraucher, hg. von Christian Fridrich, Renate Hübner, Karl Kollmann, Michael-Burkhard Piorkowsky und Nina Tröger, 1-22. Kritische Verbraucherforschung. Wiesbaden: Springer.
Kenning, Peter, Andreas Oehler, Lucia A. Reisch und Christian Grugel, Hrsg. 2017. Verbraucherwissenschaften: Rahmenbedingungen, Forschungsfelder und Institutionen. Wiesbaden: Springer Gabler.
Empfohlene Zitierweise | Witterhold, Katharina. 2019. Verbraucherforschung „en marche“ (Rezension). Re: Neuerscheinung (Kompetenzzentrum Verbraucherforschung NRW). 20. Februar. https://www.verbraucherforschung.nrw/aktuell/kvf-re-neuerscheinung/witterhold-rezension-nessel-troeger-fridrich-huebner-multiperspektivische-verbraucherforschung.
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