Konsum als Spiegelbild von Globalisierung und Digitalisierung

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Herbert Klemisch über die Dokumentation der ersten Jahrestagung des Netzwerks Verbraucherforschung.

von Dr. Herbert Klemisch (Wissenschaftsladen Bonn e.V.)

Cover Kenning Entgrenzungen-des-Konsums SpringerKenning, Peter und Jörn Lamla, Hrsg. 2018. Entgrenzungen des Konsums: Dokumentation der Jahreskonferenz des Netzwerks Verbraucherforschung. Wiesbaden: Springer Gabler.

Umfang XI, 155 Seiten | ISBN Print: 978-3-658-19338-6 | ISBN E-Book (PDF): 978-3-658-19339-3 | Preis Print: 69,99 EUR | Preis E-Book: 54,99 EUR | Inhaltsverzeichnis

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Der Sammelband beinhaltet die Beiträge zur ersten Jahrestagung des Netzwerks Verbraucherforschung, die im Oktober 2016 im Bundesministerium für Justiz und Verbraucherschutz stattfand. Die Beiträge gliedern sich in vier Themenkomplexe, die im Rahmen einer ebenfalls dokumentierten Podiumsdiskussion und eines Schlussbeitrags von Jörn Lamla zusammengeführt werden. Im ersten Themenkomplex mit einer Keynote von Dietlind Stolle geht es um Formen und Wirkungen des politischen Konsums im globalen Zusammenhang.

Der zweite Teil befasst sich mit der Entgrenzung von Konsumpraktiken in der Form von Prosuming, Crowdworking und Sharing. Hierzu skizziert die Frankfurter Soziologieprofessorin Birgit Blättel-Mink einige anregende konzeptionelle Überlegungen zur veränderten Rolle von Konsumenten, die durch erste empirische Befunde hinterlegt werden. Blättel-Mink wirft, bezogen auf das Prosuming, eine Reihe von Fragen auf, deren Beantwortung mehr als nützlich wären, um die Rolle des Prosumers oder des Prosumings für die Verbraucherforschung nutzbar zu machen: Sind Prosumer Treiber des gesellschaftlichen Wandels? Sind Prosumer die andere Seite dessen, was Soziologen als Arbeitskraftunternehmer bezeichnen? Ist Prosuming für den Konsumenten eher ein Segen oder ein Fluch und trägt Prosuming letztendlich zu einer Demokratisierung bei? Der zweite Beitrag in diesem Themenbereich befasst sich mit der Rolle des Konsumenten im Kontext der Open Innovation. Ellen Enkel skizziert darin eine Weiterentwicklung des Open Innovation Ansatzes, in dem der Kunde oder Konsument möglicherweise zum Partner des Unternehmens werden könnte.

Transnationale Wertschöpfung und entgrenzte Konsumverantwortung wird als dritter Themenbereich behandelt. Valentin Beck geht in seinem Beitrag von einer philosophischen Perspektive an das Thema einer globalen Konsumentenverantwortung heran und schlussfolgert, dass Konsumenten nicht nur über den Kauf von zertifizierten Produkten globale Verantwortung übernehmen sollten, sondern auch indem sie Druck auf Konzerne ausüben, indem sie NGOs finanziell oder ideell unterstützen oder indem sie  Druck auf politische Gremien aufbauen. Sandra Baetge stellt Ergebnisse einer empirischen Trend- und Wirkungsstudie zum Fairen Handel vor und geht der Frage nach, ob der Faire Handel die Gesellschaft verändert. Sie konstatiert im Ergebnis einen Bedeutungszuwachs des Fairen Handels, gemessen am Wachstum der Produktnachfrage. Sie stellt aber auch fest, dass der Faire Handel eine positive Auswirkung auf die Nachhaltigkeit und hier insbesondere auf den sozialen Aspekt der Nachhaltigkeit hat. Gleichwohl wirft sie einige Fragen auf, u. a. welche Rolle die Verbraucherinnen und Verbraucher in einer hochgradig globalisierten Weltwirtschaft tatsächlich spielen können.

Im vierten Teil geht es um die Entgrenzung des Verbrauchersubjekts. Der Kasseler Jurist und Wirtschaftsinformatiker Walter Blocher untersucht in seinem Beitrag die Auswirkungen von Blockchain, Smart Contracts etc. auf die Rolle des Verbrauchers und leitet daraus entsprechenden Regulierungsbedarf ab. Bernadette Kamleiter, Inhaberin des Lehrstuhls für Marketing an der Universität Wien, widmet sich in ihrem Beitrag aus psychologischer Sicht der Beobachtung einer graduellen Verschiebung der Grenze zwischen besitzendem Subjekt und besessenem Objekt und spricht in diesem Zusammenhang von „bröckelnden Subjekt-Objekt-Grenzen“. Sie wirft zum Abschluss angesichts der weltweiten Digitalisierung die Frage auf, wo die Grenzen der Identität liegen und was der Konsument überhaupt besitzen und kontrollieren soll, um damit auch Verantwortung übernehmen zu können.

Die dokumentierte Podiumsdiskussion stand unter der Fragestellung, wie die Verbraucherforschung sich, angesichts der Entgrenzung des Konsums, aufzustellen hat. Zusammengefasst wird die Debatte in dem lesenswerten Beitrag des Kassler Soziologieprofessors Jörn Lamla. Er greift die drei diskutierten Entgrenzungskomplexe des Konsums auf. Gemeint sind damit die Entgrenzung der Konsumpraktiken, die Entgrenzung der Konsumverantwortung durch transnationale Wertschöpfung und eine Entgrenzung des Subjektstatus des Verbrauchers angesichts aufbrechender Subjekt-Objekt-Grenzen. Lamla konstatiert für die Verbraucherforschung eine „paradox anmutende Herausforderung“, die er als Entgrenzungs- und gleichzeitige Kontraktionsbewegung bezeichnet. Für Lamla ist Verbraucherwissenschaft inter- und transdisziplinär angelegt. Es gibt danach weder die „eine“ Verbraucherwissenschaft noch eine Leitdisziplin wie die Ökonomie. Die Verbraucherwissenschaften seien aber allein nicht in der Lage, den Konsum als Teil komplexer Wertschöpfungsprozesse angemessen abzubilden. Vielmehr sei eine kollaborative Erforschung dieser Prozesse und der Rolle des Konsums in diesen Prozessen nötig. Er befürchtet allerdings, dass aufgrund der Tatsache, dass andere Disziplinen wie Arbeits-, Umweltwissenschaft oder die Governance-Forschung längst interdisziplinäre Netzwerke entwickelt haben, für eine Verbraucherwissenschaft eventuell kein Bedarf mehr gesehen wird. Abschließend konstatiert Lamla vor dem Hintergrund einer kooperativen Forschungsstrategie der Verbraucherwissenschaft aufgrund der langjährigen Vernachlässigung einen großen Nachholbedarf. Die Verbraucherforscherinnen und -forscher sollten sich durchaus als Lobbyisten verstehen und für die Öffnung von Förderprogrammen, Fächern und Institutsstrukturen für verbraucherwissenschaftliche Expertise einsetzen. Diesem Fazit kann man nur zustimmen.

Insgesamt ist den Herausgebern eine recht zeitnahe Dokumentation gelungen, die durch die Beiträge mit ihren vielfältigen Facetten überzeugende Argumente liefert, dass der Abschied vom eindimensionalen  Verbraucher in der Forschung zwingend erforderlich ist. Auf dem Weg zu einer neuen, möglicherweise kritischen Verbraucherwissenschaft stehen allerdings mit der Entgrenzung des Konsums als Spiegelbild von Globalisierung und Digitalisierung noch viele offene Fragen. Eine Stärke der Publikation ist, dass diese benannt und für den weiteren Erkenntnisprozess offen gelegt werden.

Empfohlene Zitierweise | Klemisch, Herbert. 2019. Konsum als Spiegelbild von Globalisierung und Digitalisierung (Rezension). Re: Neuerscheinung (Kompetenzzentrum Verbraucherforschung NRW). 28. Mai. https://www.verbraucherforschung.nrw/aktuell/kvf-re-neuerscheinung/klemisch-rezension-kenning-lamla-engrenzungen-des-konsums.

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Die Rezension gibt die Meinung des Autors wieder und muss nicht mit den Meinungen und Positionen des KVF NRW, der Verbraucherzentrale NRW e. V., des MULNV und des MKW übereinstimmen.