von Dr. Herbert Klemisch (Wissenschaftsladen Bonn e.V.)
Fridrich, Christian, Renate Hübner, Karl Kollmann, Michael-Burkhard Piorkowsy und Nina Tröger. 2017. Abschied vom eindimensionalen Verbraucher. Kritische Verbraucherforschung. Wiesbaden: Springer VS.
Umfang XIII, 202 Seiten | ISBN Print 978-3-658-15056-3 | ISBN E-Book (PDF) 978-3-658-15057-0 | Preis Print: 44,99 EUR | Preis E-Book: 34,99 EUR | Inhaltsverzeichnis
Bei dieser Publikation handelt es sich um den ersten Band einer neuen Buchreihe mit dem Titel „Kritische Verbraucherforschung”. Die Autorinnen und Autoren fühlen sich dem „Bamberger Manifest für ein neues Verbraucherverständnis” von 2014 verpflichtet, gehören sie doch alle zu den Verfasserinnen und Verfassern. Mit dem ersten Band der Buchreihe wollen sie insbesondere einige Aspekte des Bamberger Manifests vertiefen. Dabei geht es darum, dass Konsum über die reine Marktentnahme hinausgeht und auch marktfernes Konsumhandeln Auswirkungen auf die Märkte hat. Sie gehen davon aus, dass das Nachhaltigkeitskonzept eine neue Perspektive auf Konsum bietet und wollen die Nachhaltigkeitsforschung für die Verbraucherforschung nutzbar machen. Dazu schlagen sie die Erschließung von Synergien beider Ansätze vor.
Warum also kritische Verbraucherforschung und woran macht sie sich fest?
Im ersten gemeinsam verfassten Beitrag des Buches mit dem Titel „Grundüberlegungen zu einer kritischen Verbraucherforschung” werden die Kernthesen des Bamberger Manifests aufgegriffen und erläutert. Der Vorschlag zu einer kritischen Verbraucherforschung basiert demnach zunächst auf der Unzufriedenheit mit dem aktuellen Stand und dem Mainstream der Verbraucherforschung sowie der dahinter stehenden Theorie und deren Umsetzung in Politik und Verbraucherbildung. Die Autorinnen und Autoren stellen zunächst fest, dass die Verbraucherforschung, die ja die Grundlage für Verbraucherpolitik und Verbraucherbildung darstellt, grundlegend ökonomisch geprägt ist und folgerichtig das Markt-Kauf-Paradigma im Mittelpunkt steht. Eine kritische Verbraucherforschung stellt aber genau dieses Paradigma und damit die herkömmliche Wirtschaftstheorie in Frage. Sie hätte dagegen die Aufgabe, auch Versorgungsstrukturen neben dem Markt wie hauswirtschaftliche und kollektivwirtschaftliche Versorgungssysteme in den Blick zu nehmen, um Alternativen der Lebensgestaltung der Menschen auszuloten. Kritische Verbraucherforschung meint in diesem Sinne vor allem eine Erweiterung des Markt-Kauf-Paradigmas, das die Verbraucherinnen und Verbraucher auf ihre Rolle als Käufer reduziert. Die Autorinnen und Autoren rekurrieren auf die Grundstruktur des Wirtschaftssystems zwischen Markt-, Haus- und Kollektivwirtschaft und beziehen auch die Mischformen von Versorgungssystemen wie Genossenschaften oder kirchlich karitative Organisationen ein. Sie stellen fest: „Außerhalb des Marktbereichs tätige marktfreie oder marktferne Organisationen können die Bedürfnisse der Betroffenen oft besser, ohne Deformation durch marktwirtschaftliches Angebotsverhalten befriedigen“ (S. 8). Ein weiteres Essential der kritischen Verbraucherforschung stellt die Orientierung am Konzept der Nachhaltigkeit dar. Dies gilt sowohl für den nachhaltigen Konsum, der für die Verbraucherinnen und Verbraucher als Verantwortungszumutung zwischen Manipulation und Überforderung beschrieben wird, als auch für die nachhaltige Verbraucherbildung, die von Mündigkeit statt Bevormundung geprägt sein sollte. „Kritische Verbraucherforschung soll sensibel sein für konsumkritische Begehren insbesondere im Sinne von kaufkritischen Konzepten, Haltungen und Handlungen; und sie soll dazu beitragen, die Möglichkeit der Wahl und Abwahl von Versorgungsstrukturen in marktnahen und marktfernen Kontexten zu erweitern“ (S. 13).
Die Autorinnen und Autoren werben für einen Diskurs der verbraucherforschenden Disziplinen (Ökonomie, Politikwissenschaft, Soziologie und Philosophie werden explizit benannt) mit dem Ziel, Möglichkeiten und Grenzen einer emanzipatorischen, zukunftsfähigen, nachhaltigen Entwicklung der Konsumgesellschaft auszuloten. Sie vertreten damit die Leitidee des Bamberger Manifests „Konsum neu denken!“. Insgesamt erscheint dies als hehrer Anspruch, der allerdings durch einige wissenschaftliche Annahmen hinterlegt wird, z. B. die Kritik an der Privatisierung der Nachhaltigkeit (Grunwald 2010), die Aufwertung von Zugang anstelle von Eigentum (Rifkin 2000) oder die soziologischen Analysen von Lamla und Neckel (2006) zur Ausgestaltung des Konsums in einer ausdifferenzierten demokratischen Gesellschaft. Neben dem Austausch der Disziplinen postulieren sie eine entsprechende Verankerung in der Gesellschaft, die auch die Rolle von Laien- und Bürgerwissenschaft aufgreift (Finke 2015). Hier kämen auch methodische Ansätze ins Spiel, die aus dem Spektrum der Wissenschaftsläden heraus bearbeitet werden.
Abschließend stellen die Autorinnen und Autoren fest, dass es einen erheblichen Entwicklungsbedarf für eine kritische Verbraucherforschung gibt und man erst am Beginn eines entsprechenden Diskurses steht. Grundlegend ist aber die Orientierung am Nachhaltigkeitsprinzip, mit dem ein gesellschaftlicher Wandel im Sinne einer sozial-ökologischen Transformation angestrebt wird. Hierzu werden drei Denk- oder Handlungsmuster als Prämissen angenommen: (a) Wirtschaftliches Handeln soll als Umgang der Individuen mit knappen Ressourcen im Sinne kreativen Haushaltens für die Befriedigung der Bedürfnisse verstanden werden. (b) Die Entstehung von Bedürfnissen soll vom Individuum als selbst organisierter Prozess verstanden und gestaltet werden. (c) Die Befriedigung von Bedürfnissen soll vom Individuum als kreativer Prozess der Nutzung vorgefundener und des Aufbaus neuer Organisationen auch jenseits von Märkten verstanden werden. Am Ende wird eine grobe Richtung vorgegeben, wenn gefordert wird, dass eine Konsumtheorie „mehr Gesellschaftstheorie denn Wirtschaftstheorie“ (S. 19) sein soll.
Die Beiträge im Einzelnen
Karl Kollmann von der Wirtschaftsuniversität Wien überschreibt seinen Beitrag mit dem Titel „Menschen in der Arbeits-, Konsum- und Mediengesellschaft– zur Vermachtung und Verschränkung der Lebensfelder bzw. Teilmärkte moderner Gesellschaften“. Er geht davon aus, dass die Bereiche Arbeit, Konsum und Medien in unserer Gesellschaft vielfach separat untersucht werden, was zu einem eingeschränkten Erkenntnisgewinn führt. Kollmann macht sich hingegen für die Annahme stark, dass diese Bereiche in der modernen Gesellschaft miteinander verzahnt sind und daher nicht getrennt voneinander analysiert werden sollten. Dieser Sachverhalt ist für die Verbraucherforschung relevant, denn der Konsument ist gleichzeitig auch Arbeitnehmer und Bürger. Kollmann setzt mit seiner Bestandsaufnahme daher in vier Lebensfeldern an: Erwerbsarbeit, Konsum, Medien und Politik. Analysiert werden in seinem Beitrag die drei erst genannten Bereiche. Sein Fazit bleibt, was die Verknüpfung dieser ganzheitlichen Betrachtung angeht, jedoch enttäuschend. Er verweist auf eine dunkle Seite, die er mit Bude (2014) als Angstgesellschaft bezeichnet. Einen Ausweg sieht er in der Überwindung der Machtstrukturen der Wettbewerbsgesellschaft, wie es im Konzept der Konvivialisten als Form einer besseren Welt und eines konvivialen Lebens angedacht ist (Adloff und Leggewie 2014). Die Chancen der Umsetzung im Sinne einer positiven Dialektik der Aufklärung schätzt er allerdings nicht sehr hoch ein.
Nina Tröger von der Arbeiterkammer Wien geht in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Potenziale die Transdisziplinarität für die Verbraucherforschung und die Verbraucherpolitik bietet. Der Artikel gibt einen Einblick in die Entstehung von transdisziplinärer Forschung und nimmt eine Begriffsabgrenzung vor. Im Kernteil werden Anwendungsmöglichkeiten und Grenzen von Transdisziplinarität in Bezug auf Konsum beschrieben. Tröger stellt fest, dass auch im Bereich Konsum erste Ansätze von transdisziplinärer Zusammenarbeit zu beobachten sind, diese aber deutlich ausbaufähig sind. Die Datenlage im Bereich der Konsumforschung wird als „spärlich“ eingeschätzt. Als Methodik empfiehlt sie regelmäßige Erhebungen und Evaluationen im Sinne von Panels. Zudem sollten Erhebungen auf die Erfassung gesamter Lebenswelten abzielen und ihren Fokus nicht auf reine Konsumerhebung richten.
Michael-Burkhard Piorkowsky, emeritierter Bonner Haushaltsökonom, behandelt in seinem Beitrag mit dem Titel „Konsum im Fokus der Alltags- und Lebensökonomie“ konsumtheoretische Entwicklungslinien. Er referiert hierzu ökonomische sowie soziologische Positionen und ordnet diese alltags- und lebensökonomisch ein. Piorkowsky kommt zu dem Schluss, dass in der Haushaltsökonomik und in der Soziologie in den letzten Jahrzehnten vermehrt produktive Eigenschaften des Konsums und konsumtive Begleiterscheinungen der Produktion herausgestellt werden. So wird in der aktuellen konsumtheoretischen Diskussion von Prosuming, Prosumtion und Prosumenten gesprochen. Gemeint ist damit eine weitgehende Vermischung oder sogar die Identität von Produktion und Konsum. Piorkowsky schließt seinen Beitrag ab, indem er einen Paradigmenwechsel von Konsum zu Prosumtion anregt.
Christian Fridrich verortet in seinem Beitrag „Verbraucherbildung im Rahmen einer umfassenden sozioökonomischen Bildung“ den Kontext einer Verbraucherbildung an den Maximen einer Förderung der Entfaltung von Orientierungs-, Urteils- und Handlungsfähigkeit. Die Analogien zu den Konzepten einer Bildung für nachhaltige Entwicklung sind evident, werden aber nur rudimentär herausgearbeitet und enden enttäuschend mit dem Plädoyer zur transdisziplinären Bearbeitung einer Querschnittmaterie im Rahmen einer schulischen Verbraucherbildung.
Renate Hübner, Nachhaltigkeitsforscherin an der Universität Klagenfurt, stellt in ihrem Beitrag Nachhaltigkeits- und kritische Verbraucherforschung als interventionsorientierte Wissenschaften dar, die sich gegenseitig ergänzen könnten. Sie meint damit etwa die Entwicklung von irritierenden Prozessen und Interventionen, aber auch die Erarbeitung von Strategien zum Umgang mit Widersprüchen und Dilemmata. So verstandene Interventionen könnten zu einem Wandel der Konsummuster in Richtung einer nachhaltigen Entwicklung führen. In diesem Sinne wäre die Frage, ob Verbraucherforschung die Nachhaltigkeitsforschung braucht, eindeutig positiv zu beantworten.
Fazit
Insgesamt ist der erste Band der Reihe „Kritische Verbraucherforschung“ als gelungen zu betrachten. Wenn auch manche Aspekte, wie die Verbraucherbildung, etwas dünn ausfallen, so bleibt doch die ganzheitliche, lebensweltliche Analyse als Grundlage einer kritischen Verbraucherforschung und die Orientierung am Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ein plausibler Pfad, auf dessen weitere Vertiefung im Rahmen der Buchreihe wir gespannt sein dürfen.
Literaturhinweise
Adloff, Frank und Claus Leggewie. 2014. Das konvivialistische Manifest: Für eine neue Kunst des Zusammenlebens. Bielefeld: Transcript.
Bude, Heinz. 2014. Gesellschaft der Angst. Hamburg: Hamburger Edition.
Finke, Peter, Hrsg. 2015. Freie Bürger, freie Forschung: Die Wissenschaft verlässt den Elfenbeinturm. München: Oekom Verlag.
Grunwald, Armin. 2010. Wider die Privatisierung der Nachhaltigkeit: Warum ökologisch korrekter Konsum die Umwelt nicht retten kann. GAIA 19, Nr. 3: 178-182.
Lamla, Jörn und Sighard Neckel, Hrsg. 2006. Politisierter Konsum - konsumierte Politik. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Rifkin, Jeremy. 2000. Access. Das Verschwinden des Eigentums: Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden. Frankfurt am Main: Campus Verlag.
Empfohlene Zitierweise | Klemisch, Herbert. 2019. Für eine Gesellschaftstheorie des Konsums (Rezension). Re: Neuerscheinung (Kompetenzzentrum Verbraucherforschung NRW). 21. Mai. https://www.verbraucherforschung.nrw/aktuell/kvf-re-neuerscheinung/klemisch-rezension-fridrich-abschied-vom-eindimensionalen-Verbraucher
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