Eine interessante, aber steile These

Stand:
Jonas Grauel über Schmidbauers Kritik der Wegwerfgesellschaft.

Cover 9783962381837 Die Kunst der Reparatur Schmidbauer oekomvon Jonas Grauel (Verbraucherzentrale NRW)

Schmidbauer, Wolfgang. 2020. Die Kunst der Reparatur: Ein Essay. München: oekom Verlag.

Umfang 192 Seiten | ISBN Print 978-3-96238-183-7 | ISBN E-Book (PDF) 978-3-96238-672-6 | Preis Print: 20,00 EUR | Preis E-Book: 15,99 EUR | Inhaltsverzeichnis

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Kleidung zu flicken und Elektrogeräte zu reparieren ist heute nicht mehr selbstverständlich – viel zu schnell landen defekte oder auch nur leicht abgenutzte Dinge im Müll. Immer mehr Geräte verschließen sich von vornherein der Reparatur, weil das Gehäuse nicht zu öffnen ist und die verbauten Platinen für Laien nicht zu durchschauen sind. Und auch die Neugier auf und die praktischen Kompetenzen für Reparaturen gehen immer mehr verloren. In seinem Buch "Die Kunst der Reparatur: Ein Essay" spürt Wolfgang Schmidbauer den Freuden des Reparierens und den psychischen Konsequenzen des Wegwerfens nach. Seine Thesen: "Die Konsumgesellschaft schadet nicht nur der Umwelt, sondern auch der Psyche" und "Reparaturen strahlen positiv in unsere emotionalen Beziehungen aus – zu Dingen, aber auch zu anderen und uns selbst."

Es ist ein Essay der sehr weit ausgreifenden Art geworden. Es sei gleich vorweggenommen: Mehr Fokus hätte dem Buch gut getan. Die 16 Kapitel sind lose aneinander gereiht und werden nicht in eine leichter erfassbare Struktur eingeordnet. Der Text ist kursorisch und springt zwischen persönlichen Anekdoten zu Reparaturen, Thesen zur Lebenskunst und beißender Kritik an der Konsumgesellschaft hin und her, dabei werden viele durchaus kontroverse Themen beiläufig angerissen und dann nur einseitig bzw. oberflächlich besprochen. Im Folgenden sollen die drei "Fäden" des Buches – erstens die Anekdoten, zweitens die Analogie  "Reparatur von Dingen – Reparatur der Psyche" und drittens die Kritik der Konsumgesellschaft besprochen werden.

Reparaturgeschichten

Zunächst zu den persönlichen Reparaturgeschichten, die einen relativ großen Teil des Buches einnehmen. Schmidbauer beschreibt unter anderem, wie er als junger Mann durch den Kauf eines Steinhauses in Italien seine Liebe zur Reparatur entdeckt hat, wie er defekte Regenschirme und Lampen instand setzt und wie er mit viel Improvisationstalent eine Dusche gebaut hat. Mit großem Detailreichtum schildert er Reparaturen, Basteleien und Handwerksarbeiten. An manchen Stellen ist das anregend und lässt den Leser darüber nachdenken wie man das ein oder andere Ding reparieren könnte. Das Interesse des Rezensenten an dem Buch galt jedoch eher den Debatten um Konsumgesellschaft, Nachhaltigkeit und Lebenskunst – und von diesem Standpunkt aus sind die oft mehrere Seiten einnehmenden Beispiele langatmig. Schade ist zudem, dass Schmidbauer fast nur eigene Erfahrungen referiert. Zum einen wirkt dies manchmal selbstdarstellerisch, zum anderen hätten Berichte über andere Akteure wie z. B. RepairCafés oder FabLabs das Buch reichhaltiger und vielfältiger machen können.

Reparatur als Lebenskunst

Ausgehend von den Anekdoten kommt der Autor mehrfach auf die eingangs erwähnten Thesen zu sprechen: Die Reparatur von Dingen strahle positiv in zwischenmenschliche Beziehungen aus – im Umgang mit Dingen wie mit Beziehungen sei es gleichermaßen heilsam zu reparieren. Diese Passagen sind meines Erachtens der lesenswerteste Teil des Buches, allerdings verlässt hier Schmidbauer das Thema Reparatur im engeren Sinne und widmet sich den Themen Lebenskunst, Persönlichkeitsentwicklung und Beziehungspflege. Das Prinzip "Reparieren" verweise auf einen pfleglichen Umgang mit uns selbst und anderen; es verdeutliche, dass im Leben nicht alles glatt geht und dass es wichtig sei mit Unvollkommenheit zu leben. Schmidbauer erörtert, dass Reparatur lehren kann, Störungen nicht zu fürchten. Anstatt zu versuchen, ihnen durch Flucht oder Aggression zu entkommen, sei es besser, sie durch "Akte der Kreativität" zu transformieren. Schmidbauer sieht Reparieren als wertvolle Übung im Ertragen, die uns darin bildet, Schönheit im Unvollkommenen zu entdecken und Zufriedenheit mit dem zu entwickeln, was gegeben ist.

Spannend ist das Buch auch, wenn Schmidbauer dem semantischen Gehalt zentraler Begriffe nachgeht. Reparieren wird vom Restaurieren, dem englischen "to fix", vom Flicken und Manipulieren abgegrenzt. Deutlich wird so: "Reparieren orientiert sich am Ursprung einer Funktion und ihrer Wiederherstellung" – ohne, dass ein Gegenstand danach wie neu aussehen muss. Spuren dürfen sichtbar sein und sich in die Ding-Geschichte einschreiben.

Bedauerlicherweise wird durch die kursorische Argumentation vieles nur angerissen und kaum etwas zu Ende durchdacht. Der Autor verpasst die Chance, durch Einbeziehen auch möglicher Fragen, Einwände und Grenzen ein tieferes Verständnis zu erzielen. Offensichtlich lässt sich z. B. die Subjekt-Objekt-Konstellation "Reparateur – zu reparierendes Ding" nicht 1:1 ins Zwischenmenschliche übertragen – was bedeutet dies für ‚Reparaturen‘ in und an Beziehungen? In welchen Situationen und Lebenslagen ist das Reparaturprinzip für die Lebenskunst hilfreich und heilsam – und wo sind andere Strategien angebracht? Schmidbauer kritisiert die Lehrer und Motivationstrainer, die zum Verlassen der Komfortzone auffordern – doch verhindert ein ständiger Verbleib in der Komfortzone nicht auch Wachstum? Schmidbauer kritisiert die nachlassende Fähigkeit zur Bindung an Dinge und Menschen in der Moderne – da ist etwas dran, doch sollte nicht vergessen werden, dass vormoderne "Zwangsgemeinschaften" oft bedrückend eng waren und mit unseren heutigen Vorstellungen von Freiheit, Gleichheit und Demokratie kaum vereinbar sind. Wenn "die Konsumgesellschaft" tatsächlich der Psyche schaden soll – anhand welcher Kriterien lässt sich das feststellen, und welche Mechanismen sind hier am Werk? All diese Fragen bleiben offen – überzeugt hat die Argumentation am Ende nicht.

Diagnose der Konsumgesellschaft

Ausgreifenden Raum widmet Schmidbauer dafür der Diagnose der Konsumgesellschaft: Diese sei "seelisch deformiert", ein "manischer Prozess", ihr Inhalt sei "öde und banale Routine". Ihre Subjekte (ja, damit sind "wir" gemeint!) beschreibt er als individuelle Egoisten, als Meister im Verleugnen und Verdrängen, als moderne Konsumsüchtige, gleichgültig gegenüber dem Leid in der Welt, abhängig von Experten, hörig gegenüber den Politikern, die ihnen Illusionen verkaufen – letztlich dem Untergang geweiht! Die arbeitsteilige Organisation der Gesellschaft habe zu einem "unvermeidlichen Verlust an Nähe und Wärme" geführt. Puh.

So nachvollziehbar diese Kritik angesichts der erschütternden Umweltkonsequenzen unseres Konsums auf den ersten Blick ist, so problematisch erscheint sie – vor allem aus zwei Gründen: Erstens braucht es für die Transformation zur Nachhaltigkeit ein nüchternes Verständnis gesellschaftlicher Prozesse, die zu immer mehr Konsum führen. Die Soziologie beschreibt hierzu Mechanismen wie Distinktion, Spezialisierung von Lebensbereichen, Referenzgruppen-, Netzwerk- und Infrastruktureffekte. Damit lässt sich erklären, warum immer höhere Konsumniveaus als ‚normal‘ betrachtet werden – und verstehen, dass es sich um soziale Prozesse handelt, denen sich Individuen nur schwer entziehen können. Begriffe wie "Leugnen" und "Verdrängen" greifen zu kurz, da sie nur an der psychischen Verarbeitung durch Einzelne ansetzen – und zu wenig zur Kenntnis nehmen, dass Menschen die Teilhabe an den Gepflogenheiten ihrer Gesellschaft meist näher ist als das oft abstrakte, wenig spürbare Wissen über Umweltkonsequenzen. Zweitens ist fraglich, ob Schmidbauer seine Leser – abseits der ohnehin schon Überzeugten – für eine nachhaltige Lebensweise gewinnen kann, wenn er ihnen Stempel wie "Egoisten" und "Leugner" um die Ohren haut.

Romantische Gegenmodelle

Als Gegenmodell zur vermeintlich kalten, rationalen und verschwenderischen Konsumwelt beschreibt Schmidbauer die Freuden eines einfachen, naturnahen Lebens und des Do-it-yourself-Prinzips. Ein Beispiel: "Pilze im Laden kaufen ist Routine, sie im Wald zu suchen ein kleines Abenteuer". Andere Wege hin zu mehr Nachhaltigkeit verwirft er dagegen – der Autor spricht von der "Recyclinglüge" und entlarvt Bemühungen "etwas für die Umwelt zu tun" als heuchlerisch. Nichts gegen die Freuden des Pilzesammelns – doch "alternativer Hedonismus" (vgl. Soper 2007) allein wird kaum tragfähige Lösungen für die Ernährung von bald acht Milliarden Menschen bieten können – zumal eine starke Trägerschicht für einen solchen Weg nirgendwo in Sicht ist.
Ziemlich absurd wird es dann im letzten Kapitel, in dem der Autor "die soziale Überlegenheit der Stammeskultur" preist und die Überwindung des individuellen Egoismus darin sieht "sich zu neuen Stämmen zusammenzuschließen und die überschaubare Umwelt gemeinsam zu verwalten." Das ist schon eine arg romantische Vorstellung. Abgesehen davon, dass auch in Stammesgemeinschaften lebende Menschen schon beträchtliche Umweltkatastrophen z.B. durch Brandrodung angerichtet und viele große Landsäugetiere ausgerottet haben (Harari 2013, 88-98) ist eine solche Rückentwicklung funktionaler Differenzierung weder realistisch noch wünschenswert.

Die Soziologie betrachtet Dezentralisierung und Arbeitsteilung auch als Errungenschaften moderner Gesellschaften. Und in differenzierten Gesellschaften kommt man – so der Münchner Professor Armin Nassehi – bei der Bewältigung globaler Umweltkrisen nicht darum herum "Akteure aus unterschiedlichen Feldern zusammen zu bringen und nach Lösungen zu suchen" (Nassehi 2019). Es geht darum, Koalitionen zu bilden und die Prinzipien Effizienz, Suffizienz und Konsistenz nicht in Konkurrenz, sondern in Ergänzung zueinander zu setzen. Doch das kann nur gelingen, indem man Gespräche sucht und Brücken baut – auch in Richtung Wirtschaft. Schmidbauers Pauschalkritik ist hierfür leider nicht sehr hilfreich.

Wolfgang Schmidbauer hat mit "Die Kunst der Reparatur" ein wichtiges Thema aufgegriffen – das Reparaturprinzip muss in der Tat gestärkt werden, und die aktuellen Debatten um Kreislaufwirtschaft bieten hierfür gute Chancen. Der Autor hat eine zwar interessante, aber auch ziemlich steile These wenn er postuliert, dass das Wegwerfprinzip der Psyche schade. Wirklich überzeugen kann das Buch nicht. Dafür bleibt Schmidbauer zu wenig bei seiner Ausgangsthese – und macht zu viele in sich nicht wirklich schlüssige Argumente als Nebenbaustellen auf, die er bestenfalls oberflächlich abhandelt.

Literatur

Harari, Yuval Noah. 2013. Eine kurze Geschichte der Menschheit. München: Pantheon.

Armin Nassehi: Alles, sofort? Das geht nicht! Warum es für eine moderne Gesellschaft so schwierig ist, die Klimakrise zu bekämpfen. Die Zeit (24. Oktober). https://www.zeit.de/2019/44/klimakrise-bekaempfung-moderne-gesellschaft-armin-nassehi.

Soper, Kate. 2007. Re-thinking the ‘Good Life’: The citizenship dimension of consumer disaffection with consumerism. Journal of Consumer Culture 7: 205-229.

Empfohlene Zitierweise | Grauel, Jonas. 2020 Eine interessante, aber steile These (Rezension). Re: Neuerscheinung (Kompetenzzentrum Verbraucherforschung NRW). 26. August. https://www.verbraucherforschung.nrw/aktuell/kvf-re-neuerscheinung/eine-interessante-aber-steile-these-grauel-rezension-die-kunst-der-reparatur-50983.

Die Abbildung des Buchcovers erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Die Rezension gibt die Meinung des Autors wieder und muss nicht mit den Meinungen und Positionen des KVF NRW, der Verbraucherzentrale NRW e. V., des MULNV und des MKW übereinstimmen.