von Prof. Dr. Christian Kleinschmidt (Philipps-Universität Marburg)
Piorkowsky, Michael-Burkhard und Karl Kollmann, Hrsg. 2019. Vergessene und verkannte Vordenker für eine Kritische Konsumtheorie: Beiträge aus Ökonomik, Soziologie und Philosophie. Kritische Verbraucherforschung. Wiesbaden: SpringerVS.
Umfang V, 200 Seiten | ISBN Print 978-3-658-21969-7 | ISBN E-Book (PDF) 978-3-658-21970-3 | Preis Print: 44,99 EUR | Preis E-Book: 34,99 EUR | Inhaltsverzeichnis
Verbraucherforschung setzt sich u. a. mit aktuellen Themen der Nutzung von Konsumgütern und -dienstleistungen, von Verbraucherinformationen und Verbraucherschutz sowie mit Aktivitäten von Konsumenten und Aspekten der Verbraucherpolitik auseinander. Hinter den jeweiligen Fragen einer empirischen Konsumforschung stecken zumeist – explizit oder implizit – Theorien des Konsums bzw. der Konsumgesellschaft, die wiederum von Ökonomen, Soziologen oder auch Philosophen verfasst wurden. Bekannte Namen sind hier etwa Adam Smith, John Meynard Keynes oder Milton Friedman, in deren ökonomischen Theorien oder Modellen das Thema Konsum einen nicht geringen Stellenwert einnimmt.
Der vorliegende Sammelband hat sich zum Ziel gesetzt, weniger die allseits bekannten Konsumtheoretiker vorzustellen, sondern sich stattdessen auf die "vergessenen und verkannten Vordenker für eine kritische Konsumtheorie" zu konzentrieren und dabei neben Volkswirten/Nationalökonomen (Alfred Marshall, Otto Neurath, Gerhard Weisser, Erich Egner) auch Soziologen (Ernest Zahn) und Philosophen (Herbert Marcuse, Hannah Arendt) in den Blick zu nehmen. Dementsprechend und konsequenterweise sind es auch Vertreter dieser Disziplinen, die sich dieser Aufgabe widmen.
Der Begriff "kritische Konsumtheorie", auf den sich die Herausgeber beziehen, geht von einem ganzheitlichen Verbraucherverständnis aus, das, in Anlehnung an das "Bamberger Manifest" aus dem Jahr 2014, einen umfassenden, kontextorientierten und disziplinenübergreifenden Verbraucherbegriff impliziert. Die ausgewählten Konsumtheoretiker stehen für eine solche erweiterte Konsumtheorie und werden aus diesem Grund in dem Band entsprechend gewürdigt. Dabei geht es nicht in erster Linie um eine dogmenhistorische Einordnung der jeweiligen Theorieansätze, sondern auch um die Betonung eines Aktualitätsbezuges.
So weist Mitherausgeber Michael-Burkhard Piorkowsky in seinem Beitrag zu Alfred Marshall u. a. darauf hin, dass in dessen "Principals of Economics", die Ende des 19. Jahrhunderts erschienen sind, bereits durchaus Vorläufer der von Alvin Toffler 100 Jahre später konstruierten Figur des modernen "Prosumenten" zu erkennen sind. Rainer Hufnagel stellt Erich Egners Konzept der "haushälterischen Vernunft" aus den 1950er-Jahren nicht nur in den Kontext der Kantschen Aufklärung, sondern betrachtet es auch mit Blick auf die Internetökonomie mit Verweis auf die Beziehungen zwischen Geld, Informationen und Tauschbeziehungen. Während er dabei zu "ambivalenten Ergebnissen" hinsichtlich Egners normativen Konsumvorstellungen kommt und diese als zeitbedingte, jedoch auch als "erstaunlich aktuelle" Konsumkritik betrachtet, geht Karl Kollmann, der leider am 5. September 2019 im Alter von nur 67 Jahren viel zu früh verstarb, mit Blick auf Herbert Marcuses Konsumkritik von einer "ungeahnten Modernität" aus, die jedoch eine Historisierung und damit eine zeitlich-kritische Distanz weitgehend vermissen lässt. Das liegt zum Teil an Formulierungen sowie an einer formalen Textgestaltung, bei der es dem Leser schwerfällt, zwischen wörtlichen Zitaten aus Marcuses Werk, indirekter Rede und eigenen Einschätzungen des Autors zu unterscheiden: Sätze wie "die früheren Oppositionspositionen werden augenscheinlich von der spätkapitalistischen Kulturindustrie mühelos integriert" (S. 172) oder "Ungleichheit, Ausbeutung, menschenfeindliche Technisierung sowie ohne jede demokratische Kontrolle sich verselbständigende Naturwissenschaften […] bleiben unter solchen Umständen nach wie vor unthematisiert" (S. 176) klingen ein wenig nach dem neomarxistischen Vokabular der 1960er-Jahre. Karl Kollmann war in seinen Funktionen beim Verein für Konsumenteninformation (VKI) und der Kammer für Arbeiter und Angestellte (AK) ein engagierter Verbraucherschützer. Er lehrte an der Wirtschaftsuniversität Wien, war einer der führenden österreichischen Verbraucherforscher und hatte stets einen kritischen Blick auf die Konsumgesellschaft und die Verbraucherpolitik, was auch in seinem Beitrag zu Marcuse zum Ausdruck kommt. Man merkt dem Artikel Nähe und Sympathie zu jenem Vordenker der Kritischen Theorie an, was aber bisweilen einer gebotenen Historisierung der Marcuse-Texte, die in erster Linie die amerikanische Konsumgesellschaft der 1960er-Jahre betreffen, im Wege steht.
Besser gelingt die geschichtliche Einordnung Kai-Uwe Hellmann in seinem Beitrag über den Soziologen Ernest Zahn, der dessen "Soziologie der Prosperität" in der sich entwickelnden Massenkonsumgesellschaft der Bundesrepublik ab Ende der 1950er-Jahre sowie dem zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs verortet und der damit einen "Epochenwechsel" beschrieb. Zahns Verdienst war es laut Hellmann zudem, die internationale Konsumforschung nach Deutschland gebracht zu haben.
Ähnliches gilt für den Beitrag von Dietrich Engels über die "Parallelen in den Erklärungsansätzen von Otto Neurath, Gerhard Weisser und Niklas Luhmann" sowie von Paul Horn über "Hannah Arendt revisited". Ersterer fragt u. a. nach dem Potential des Lebenslagen-Konzeptes Gerhard Weissers hinsichtlich der "Bildung alternativer zivilgesellschaftlicher Strukturen aus einer kritischen Gegenbewegung" (S. 99). Bei Letzterem findet eine Einordnung des Konsumthemas in das philosophische Denken Hannah Arendts statt, ohne dies mit einem aufgesetzten Aktualitätsbezug überzuinterpretieren.
Insgesamt fallen die Beiträge des Sammelbandes also sehr unterschiedlich aus. Es ist ein Verdienst der Herausgeber , an die "vergessenen Vordenker für eine kritische Konsumtheorie" zu erinnern, wobei es durchaus legitim ist, entsprechende Aktualitätsbezüge herzustellen. Dies setzt allerdings eine Historisierung im Sinne einer historischen Kontextualisierung voraus, die nicht bei allen Texten konsequent umgesetzt ist und die dadurch die historische Komplexität zu Gunsten einer aktuell ausgerichteten Verbraucherpolitik zu stark reduziert oder bisweilen gar instrumentalisiert.
Empfohlene Zitierweise | Kleinschmidt, Christian. 2020. Aktuelle Klassiker neu gelesen (Rezension). Re: Neuerscheinung (Kompetenzzentrum Verbraucherforschung NRW). 13. Februar. https://www.verbraucherforschung.nrw/aktuell/kvf-re-neuerscheinung/aktuelle-klassiker-neu-gelesen-kleinschmidt-rezension-piorkowsky-kollmann-vergessene-und-verkannte-vordenker-für-eine-kritische-konsumtheorie-44473.
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